Mächtig was los in dieser Familie: Szene aus dem Gastspiel „Unser aller Vater“ aus Venezuela. Die Tragikomödie handelt von familiärem Schmutz aus vergangenen Tagen und den kommerziellen Verstrickungen in den Mediensumpf. Die Künstler sind aus Caracas zum Heidelberger ¡Adelante!-Festival angereist. Foto: TET
Von Arndt Krödel
Heidelberg. War der Papa nun Kommunist oder nicht? Wenn er’s war, darf man dem lukrativen Angebot von Coca-Cola eigentlich nicht auf den Leim gehen. Schlappe 300.000 bietet der Konzern, der die Welt mit der braunen Brause beglückt, den fünf Geschwistern, wenn sie ein Video des verstorbenen Vaters für Werbezwecke freigeben. Die Familienkonferenz tagt im Haus des verblichenen Oberhaupts, das am Meer liegt und in seinen Fundamenten immer mehr von dessen Brandung bedroht wird. Die zähe und zugleich turbulente Entscheidungsfindung ist Gegenstand der Tragikomödie "El Padre de Todos Nosotros" (Unser aller Vater), die das iberoamerikanische Festival ¡Adelante! in einer Produktion des venezolanischen Centro de Creación Artística TET im ausverkauften Zwinger 1 des Heidelberger Theaters zeigte.
Schwarzer Humor mischt sich mit bis an die Grenze zur Hysterie reichender Emotionalität, wenn sich die fünf höchst ungleichen Geschwister – drei Schwestern, zwei Brüder – einen Streit über Kapitalismus und Kommunismus, Eigennutz und Anstand liefern, der sich gewaschen hat. Langweilig wird es nie in dem 90-minütigen Geschehen, dafür sorgen die geistreichen und manchmal bösen Pointen von David Desola, der den Text schrieb, die dynamische Regie von Guillermo Díaz Yuma und das putzmuntere Ensemble mit Sara Azocar, Patricia Castillo, Ivan Dalton, Silvie Gouverneur und Richard Mercad.
Das herrlich temperamentvolle Gespräch kreist um die politische Gesinnung des Herrn Papa – "Er ist unser aller Vater, du hast kein Monopol auf ihn", sagt jemand zum anderen –, dessen Asche von Christina, Mutter von Zwillingen mit drastisch geschilderten Verdauungsproblemen, in einer Keksdose mitgebracht wird. Das Video, auf das der US-Konzern so scharf ist, zeigt ihn als Lebensretter eines Kindes. Mit dem Slogan "You don’t choose to be a hero" will Coca-Cola, dessen imperialistische Strategie vom streitbaren Sohn Ramon angeprangert wird, daraus Profit ziehen. Aber ist der Vater deswegen ein Held? Und darf man für seine Vermarktung kassieren?
Die Fronten in dieser Debatte schwanken immer wieder und bringen ganz unterschiedliche Motive ans Tageslicht. Tief versinkt die Familie in einer von ungeklärten Ereignissen der Vergangenheit genährten Schlammschlacht, um am Ende angesichts ökonomischer Zwänge nach dem Motto "Das Hemd sitzt mir näher als der Rock" zu entscheiden. Nicht nur das Haus, auch die Familie selbst zeigt sich in ihren Fundamenten erodiert. Begeisterter Applaus für die Truppe aus einem Land, dessen Bevölkerung unter einer unsäglichen Machtbehauptung der Regierenden leidet.
Im 2007 in Quito (Ecuador) uraufgeführten Stück "Funeral para la Idea de un Hombre" (Trauerfeier für die Idee des Menschen) in der Regie von Javier Díaz Dalannais scheint der Gedanke der Erosion ebenfalls nicht fernzuliegen. Die Gemeinschaftsproduktion aus Ecuador, Chile, Argentinien und Mexiko, die im Alten Saal gezeigt wurde, lebt von ihrem grenzüberschreitenden Charakter, sowohl was die Herkunft der Protagonisten betrifft als auch die Stilmittel. Auf der lediglich mit Holzklötzen und Sand ausgestatteten Bühne drehen sich die manchmal ekstatisch artikulierten Monologe um das "Konzept" des Menschen, das von ihm selbst in gewalttätigen Prozessen zerstört worden ist und einer Neudefinition bedarf. Endzeitstimmung ist angesagt.
Angeprangert wird die kranke, patriarchale Welt mit ihrer Unterdrückung der Frauen. Dumpf stampft der Rhythmus des Tanzes: "Ich stampfe, um zu vergessen", sagt der Tänzer. Alejandra Juárez Aguilar, Javier Alejandro Pérez Caicedo, Lautaro Veneziale und Juan Luis Miguel Cajiao Oviedo agieren virtuos mit den Disziplinen Tanz, Akrobatik und Performance. Richtig überzeugend ist das Stück nicht, zu unklar bleiben seine Konturen, zu wenig konsistent seine Struktur. Das Publikum aber zog mit langem Beifall eine positive Resonanz.