Friedenspreisträger Sansal in Heidelberg: "Die Angst in der ganzen Welt"

Islamismus-Debatte: Friedenspreisträger Boualem Sansal stellte Zukunftsroman "2084 - Das Ende der Welt" im DAI Heidelberg vor

12.06.2016 UPDATE: 13.06.2016 06:00 Uhr 2 Minuten, 41 Sekunden

Die "zugleich faszinierende und erschreckende Zukunftsvision eines totalitären Gottesstaates" entwirft der algerische Schriftsteller Boualem Sansal in seinem Roman "2084 - Das Ende der Welt". Foto: Friederike Hentschel

Von Heribert Vogt

Als "eine Riesenmaschine, die wunderbar funktioniert", bezeichnete der algerische Schriftsteller Boualem Sansal den Islamismus, der in den letzten dreißig Jahren "die ganze Welt erfasst" hat. Dies erklärte der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels (2011) in einer zweisprachigen Veranstaltung im voll besetzten Bibliothekssaal des Heidelberger DAI, bei der er seinen jüngst auch in deutscher Sprache erschienenen antiutopischen Zukunftsroman "2084 - Das Ende der Welt" vorstellte.

Bei Sansals gemeinsam mit dem Deutsch-Französischen Kulturkreis Heidelberg organisierten Auftritt sorgten Moderatorin Anne-Marie Schirmer und Dolmetscher Stephan Egghart dafür, dass alle Zuhörer den spannenden Ausführungen des "unbestritten wichtigsten algerischen Gegenwartsautors" folgen konnten. Denn für Sansal (Jahrgang 1948) entwickelt sich der Islam möglicherweise "auf das Ende der Welt hin".

In Frankreich ist seine "zugleich faszinierende und erschreckende Zukunfts-vision eines totalitären Gottesstaates" seit ihrem Erscheinen im September 2015 schon über 300 000 Mal verkauft worden. Bereits kurz zuvor hatte Michel Houellebecq dort sein aufsehenerregendes Buch "Die Unterwerfung" veröffentlicht, in dem ein Muslim französischer Präsident wird. Sansal: Wenn Houellebecqs Roman "eine Granate war, dann war mein Buch die Atombombe" - so sehr schlug es in unserem Nachbarland ein. Und auch im deutschen Merlin Verlag ist nach sechs Wochen bereits die dritte Auflage im Druck. Der Autor führt dieses starke Interesse an seinem preisgekrönten Werk auf die aktuelle Lage zurück - auf "die Angst in der ganzen Welt" vor dem Anwachsen des Islamismus.

Zu dem Buchtitel "2084" erläuterte Sansal, dass er George Orwells Klassiker "1984" vor vierzig Jahren begegnete. Der Roman erklärte ihm, wie Diktaturen - auch sein Land Algerien - in aller Regel funktionieren. Aber dann betraten neue Figuren wie der Prophet, Allah und die Märtyrer die Szene, sodass sich Sansal entschloss, "2084" zu schreiben. Die Hauptfigur darin heißt Ati und lebt in einem Sanatorium. Sansal lässt hier den tuberkulosekranken George Orwell wieder auferstehen und seine literarische Arbeit fortführen: "Eigentlich hat er dieses Buch geschrieben - das ist die Fiktion." Der Name Ati ist hergeleitet aus Orwells eigentlichem Namen Eric "Arthur" Blair und seiner "atheistischen" Weltsicht.

Der Autor unterstrich, dass in seinem Buch einiges von Algerien steckt, aber auch ein bisschen von Afghanistan, Saudi-Arabien und all den Gebieten, in denen der Islamische Staat aktiv ist. Im zukünftigen Abistan herrscht ein Regime, das die Welt schon lange unterworfen hat. Für Sansal ähnelt die heutige Situation derjenigen Orwells. Damals zeigte der Kommunismus einerseits sein freundliches humanes Gesicht, andererseits die hässliche Fratze des Stalinismus. Und jetzt stehen einem intellektuellen Islamismus schlimme Auswüchse von Terrorismus und Gewalt gegenüber.

Terrorformationen wie der IS sind für Sansal vorübergehende Phänomene. Auch in Algerien sind solche Gruppen verschwunden. Jedoch: "Der Islamismus ist die Krankheit des Islam, aber der Terrorismus ist die Krankheit des Islamismus." Letzterer entwickelt sich überall zu einer "Riesenmaschine", die auf Hochtouren läuft.

Deshalb brauchte Sansal "Frechheit und Mut" für "2084". In Algerien wird er schon seit seinem ersten Buch bedroht. Später wurde er in Israel von der Hamas zum Tode verurteilt. Und die Attacken gehen nun mit "2084" weiter. Allerdings hat der Autor in Algerien auch viele Freunde. Dort gibt es derzeit eine merkwürdige Situation, in der sich vieles entspannt. Niemand weiß, ob der Präsident noch lebt, und die Regierung bleibt schemen-haft: "Die Leute in Algerien sind nun ein bisschen wie eine Schafherde ohne Schäfer."

Mit Nachdruck betont San-sal, dass in "2084" der Islamismus herrscht - nicht der Islam. Zudem wird Letzterer nicht direkt angesprochen, um dem Vorwurf der Blasphemie zu entgehen. So schafft der Autor eine neue Sprache und veränderte Namen, auch wenn der Islam dahintersteht, der sich möglicherweise auf das Ende der Welt zubewegt. Deshalb ist es besonders wichtig, dass eine Debatte in der Gesellschaft ausgelöst wird.

Im Horrorszenario seines Romans gibt es nur einen Funken Hoffnung, und nicht mehr erblickt Sansal in der Realität. Lange war der Westen in der muslimischen Welt das Entwicklungsmodell, das jedoch immer wieder an kulturellen Zwängen scheiterte. Selbst die Türkei ist heute wieder auf dem Rückweg zum Kalifat.

Der Islamismus stellt längst ein globales Phänomen dar, das eine internationale Antwort erfordert. Dazu will Sansal mit seinem an den Westen gerichteten Buch beitragen: "Aber möglicherweise ist es heute dafür schon zu spät."

Fi Info: Boualem Sansal: "2084 - Das Ende der Welt". Roman. Aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky. Merlin Verlag, Gifkendorf-Vastorf 2016. 288 S., geb., 24 Euro.

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