"Was ist uns die Polizei wert?"

Frust bei Polizisten im Neckar-Odenwald-Kreis wächst

Im Interview spricht der Heilbronner Polizeipräsident über Personalnot und Belastungsgrenzen. Es gibt 84.600 Überstunden.

22.10.2025 UPDATE: 22.10.2025 04:00 Uhr 4 Minuten, 57 Sekunden
Trotz der groß angelegten Einstellungsoffensive: Mehr als 3000 Polizistinnen und Polizisten fehlen in Baden-Württemberg. Auch im Neckar-Odenwald-Kreis macht sich das bemerkbar. Für die Beamten bedeutet der Personalmangel jede Menge Überstunden. Foto: dpa
Interview
Interview
Frank Spitzmüller
Heilbronner Polizeipräsidenten

Von Caspar Oesterreich

Neckar-Odenwald-Kreis. Der Polizei fehlt es an immer mehr Personal. Wie aus einer Anfrage der SPD-Landtagsfraktion beim Innenministerium Ende August hervorging, sind in Baden-Württemberg mittlerweile zehn Prozent der Stellen dauerhaft nicht besetzt. Mehr als 3000 Polizistinnen und Polizisten fehlen. Und das trotz der bereits 2016 groß angelegten Einstellungsoffensive.

Auch im Neckar-Odenwald-Kreis macht sich das bemerkbar: Überstunden häufen sich laut Beamten zunehmend an, der Ermittlungsdienst fahre (vor allem nachts und an Wochenenden) auch mal Streife, es gebe weniger Verkehrskontrollen, selbst für den Sport bleibe den Polizisten angeblich kaum noch Zeit – der Frust wächst. Die RNZ hat deshalb den Heilbronner Polizeipräsidenten Frank Spitzmüller gefragt, wie er die Entwicklung einschätzt.

Herr Spitzmüller, seit Januar 2023 stehen Sie an der Spitze des Polizeipräsidiums Heilbronn. Um wie viel Prozent hat sich die Zahl Ihrer Beamten seitdem reduziert? Wie viele Stellen stehen aktuell auf dem Papier, wie viele davon sind tatsächlich unbesetzt?

Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Einerseits ist die Entwicklung und die Anzahl entsprechender Haushaltsstellen beim Polizeipräsidium Heilbronn zu berücksichtigen (so im Jahr 2025: 1459 Stellen Polizeivollzugsdienst), andererseits die Entwicklung der Anzahl der tatsächlich zur Verfügung stehenden Polizeibeamtinnen und -beamten. Korrespondierend dazu die Entwicklung der Anzahl der sogenannten Vollzeitäquivalenten. Die Betrachtungsweise unterliegt regelmäßig einer Schwankungsbreite.

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Können Sie das dem Laien etwas konkreter erklären?

Einflussfaktoren wie zum Beispiel Pensionierungen, Mutterschutz- beziehungsweise Elternzeiten, Teilzeitanteile aus unterschiedlichen Gründen, Aus- und Fortbildungszeiten, Sabbaticals, längerfristige Erkrankungen, eingeschränkte Dienstfähigkeiten infolge polizeiärztlich festgestellter Krankheitsbilder bis hin zu längerfristigen Abordnungen zu anderen Präsidien oder Einrichtungen der Polizei sind maßgebliche Belastungsfaktoren, wie viel Potenzial als Arbeitskraft wir im Ergebnis tatsächlich auf die Straße bringen können.

So wäre sicherlich ein Mehr an Haushaltsstellen sehr wünschenswert, um die Fülle der sicherheitspolitischen Anforderungen, vollzugspolizeilichen Aufgaben und Dienste, die uns abverlangt werden, sowohl im schutz- als auch kriminalpolizeilichen Sinne ganz zufriedenstellend bewältigen zu können. Und daraus ergibt sich ein personalstrukturelles Problem, das sich nicht so einfach ausgleichen lässt.

Nichtsdestotrotz gewährleisten meine Kolleginnen und Kollegen durch hohes Engagement und Einsatzbereitschaft die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Das weiß ich sehr zu schätzen, für einzelne Kolleg(inn)en geht das aber an die Substanz. Da wird viel abverlangt.

Was bedeutet das für die Handlungsfähigkeit der Polizei? Das PP Heilbronn hat ja flächenmäßig den größten Einzugsbereich in Baden-Württemberg.

Unser Gebiet gehört seit Jahren zu den sichersten Regionen in Baden-Württemberg – das möchten wir auch zukünftig so halten. Für die Jahre 2024 bis 2026 wurden dem PP Heilbronn insgesamt 41 neue Haushaltsstellen zugewiesen. Dieser vergleichsweise geringe Zuwachs resultiert vor allem aus einer schwerpunktmäßig belastungsbezogenen landesweiten Berechnung der Personalverteilung.

Dazu wurden maßgeblich die Daten aus der polizeilichen Kriminalstatistik und die Unfallzahlenbelastung zugrunde gelegt. Die große Fläche unseres Polizeipräsidiums mit dem Oberzentrum Heilbronn-Franken bzw. dem prosperierenden Stadtkreis Heilbronn und den ländlich geprägten Flächenlandkreisen schafft uns gewisse Herausforderungen.

Ich sage immer, die Polizei muss in allen Gebieten vernünftig funktionieren. Ich habe deshalb die personalwirtschaftliche Funktionsfähigkeit meines ganzen Präsidiums im Blick. Und das ist unsere derzeitige personelle Herausforderung.

Für die Beamten bedeutet der Personalmangel jede Menge Überstunden. Wie viele davon tragen Ihre Kollegen in Summe eigentlich schon rum? Und wie viele kommen jeden Monat dazu?

Die Belastung beispielsweise durch Zusatzdienste bei unseren 13 Polizeirevieren, den Dienstgruppen der Autobahnpolizei, dem Kriminaldauerdienst und dem Führungs- und Lagezentrum sowie die Belastung durch komplexe Ermittlungsverfahren bei der Kripo, aber auch Aufgabenzuwächse bei den Stabs- und Verwaltungseinheiten ist nicht unerheblich. Wir hatten zum Stichtag 1. September insgesamt eine Summe von Mehrarbeit in Höhe von rund 84.600 Stunden und derzeit einen monatlichen Zuwachs von etwa 295 Stunden.

Mithin ist die Mehrarbeit nicht gleichförmig auf den Schultern verteilt. Da gibt es aufgabenbezogene Belastungsspitzen. Ehrlicherweise gehört aber auch dazu, dass Kolleg(inn)en aufgebaute Überstunden in Freizeit wieder abbauen, sofern es der Dienstbetrieb und die jeweiligen Personalstärken zulassen.

Das Problem ist ja kein neues. 2016 wurde eine groß angelegte "Einstellungsoffensive" von der Polizei im Land ins Leben gerufen. Ist die erfolgreich, oder wird sie von der Welle an Pensionierungen schier überrollt?

Die Einstellungsoffensive mit den kontinuierlich hohen Einstellungszahlen der vergangenen Jahre war und ist überlebenswichtig für die Polizei. Dafür bin ich dem Innenminister dankbar. Die Ausbildung zum mittleren Polizeivollzugsdienst dauert 30 Monate, die Vorausbildung und das Studium zum gehobenen Polizeivollzugsdienst dauern insgesamt 45 Monate. So verfügt die Polizei Baden-Württemberg dank der Einstellungsoffensive mittlerweile über 500 fertig ausgebildete Polizeibeamtinnen und -beamte mehr im Land als vor der Offensive.

Es gibt ein Aber, richtig?

Maßgeblich kommt es darauf an, wie hoch die Anzahl derjenigen ist, die die Ausbildung abschließen. Die Einstellungszahlen sind daher nur eine Seite der Medaille. Sicher kosten insbesondere die Pensionierungen der geburtenstarken Jahrgänge neues Potenzial, auch verändert sich die Personalstruktur innerhalb der Polizei.

Unterschiedliche Ausfallzeiten für Mutterschutz, Elternzeit oder fehlende Arbeitszeitanteile aufgrund von Teilzeit, Vereinbarkeit von Beruf und Familie müssen zwangsläufig ausgeglichen bzw. sollten eigentlich über zusätzliche Einstellungen vorsorglich prognostisch abgebildet werden. Deshalb benötigt die Beibehaltung der Einstellungsoffensive einen dauerhaft langen Atem.

Der Polizeiberuf muss in jedweder Hinsicht attraktiv bleiben. Und das kostet Geld. Der Sicherheitsanspruch der Bürger ist hoch. Die Frage ist also auch, was ist uns Innere Sicherheit und damit die Polizei wert.

Könnte mehr Technik auch eine Lösung sein oder bindet zum Beispiel die vor Kurzem eingeführte Videoüberwachung des Heilbronner Marktplatzes zusätzlich Kräfte? In Gesprächen mit Ihren Beamten auf dem Land hört man immer wieder, dass sie in Heilbronn eingesetzt würden.

Die Gewährleistung der objektiven Sicherheit im öffentlichen Raum erachte ich als ein Grundpfeiler für das gesellschaftliche Leben. Eine Rolle dabei spielt natürlich das individuelle Sicherheitsempfinden des Einzelnen.

Das Videoschutz-Konzept wird insbesondere von meinen operativen Einheiten der Schutzpolizei mit temporär verfügbaren Unterstützungskräften des Polizeipräsidiums Einsatz gemeinsam getragen. Sicher bedeutet das Arbeit, es ist eine Schwerpunktsetzung. Die Maßnahme als solche ist nicht isoliert zu sehen, sondern eingebettet in das Gesamtkonzept "Sicheres Heilbronn".

Dazu wird die Einsatzplanung kontinuierlich abgestimmt und bei Bedarf angepasst. Unabhängig davon kann ein sinnvoller und funktionierender sowie rechtlich abgesicherter Technikeinsatz bei der Bewältigung unserer vielfältigen Aufgaben helfen bzw. uns entlasten. Vorausgesetzt die Technik ist verfügbar, für unsere Zwecke geeignet und vor allem finanzierbar.

Wenn Sie nur einmal mit dem Finger schnippen müssten, und hätten dann einfach so 50 Beamte mehr. Wie oft würden Sie schnippen?

Die Personalzuweisung an mein Polizeipräsidium erfolgt durch das Innenministerium anhand vereinbarter landesweiter Kriterien. Das habe ich zu akzeptieren. Personalverteilung ist ein schwieriges und sensibles Themenfeld. Bei allen Polizeidienststellen und Einrichtungen der Polizei bestehen unterschiedliche Bedarfe. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich erachte die Personalstärke nicht als zufriedenstellend.

Ich muss aber mit den derzeitigen Gegebenheiten wirtschaften. Auch das Innenministerium kann nicht zaubern. Deshalb ist das mit dem "Finger schnippen" und "Wünsch‘ Dir was" sicher ganz witzig gemeint. Sehen Sie mir es aber nach, darauf springe ich nicht an. Ich bin da viel zu sehr Realist und im Allgemeinen wie im Speziellen sind die Dinge für uns herausfordernd.

Blicken wir in die Zukunft: Vor welchen Herausforderungen und Aufgaben wird die Polizei in zehn Jahren stehen?

In unseren bekanntermaßen politisch, gesellschaftlich wie technisch hoch dynamischen Zeiten ist der Blick in die Zukunft auf die zehn Jahre gesehen für mich zu theoretisch. Das sollen andere machen.

Jedenfalls steht die Polizei jetzt schon vor einer Reihe von Herausforderungen: Der Umgang mit allumfassender Digitalisierung im gesellschaftlichen Leben und die Nutzung künstlicher Intelligenz, Transformation polizeitechnischer Anwendungen, neue Kriminalitätsphänomene und Bedrohungslagen, die Optimierung und Einführung neuer Einsatz- und Ermittlungsprozesse durch digitale Anwendungen, neue Ermittlungsmethoden zur Bekämpfung der Schwerkriminalität und des Terrorismus sind dazu nur einige Stichworte.

Wir müssen schnell, anpassungsfähig und unser Handeln darf kein Selbstzweck sein. Es geht darum, die Sicherheit der Menschen im Land zu erhalten. Und die sollen sich auf ihre Polizei verlassen können – das ist mir besonders wichtig.

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