RNZ: Ist Fussball doch Mathematik?
Jede Aktion wird vermessen: Ist das hilfreich oder nehmen die Depressionen zu?

Jede Aktion wird vermessen: Ist das hilfreich oder nehmen die Depressionen zu?
Als Karl-Heinz Rummenigge Trainer Ottmar Hitzfeld loswerden wollte, lästerte der Bayern-Vorstand über den ehemaligen Lehrer: "Fußball ist keine Mathematik." Wirklich? Johannes Spors sitzt vor einem dicken Bündel Papiere. 36 Blätter, eng beschrieben mit Tausenden von Zahlen. Der 29-jährige Heidelberger ist bei 1899 Hoffenheim für die Auswertung der Daten zuständig, die von der Firma Impire seit dieser Saison bei den Spielen der ersten und zweiten Liga ermittelt werden. Laufwege, Ballbesitz, Passquote, Zweikampfwerte und unendlich viel mehr.
Ist Fußball doch Mathematik? Spiegel und kicker haben sich in mehrseitigen Beträgen ("Der nackte Profi" und "Der gläserne Profi") damit beschäftigt, inwieweit sich der Fußball berechnen lässt. "Wissenschaft schießt keine Tore", sagt Jürgen Buschmann, Professor an der Sporthochschule Köln und Leiterder Arbeitsstelle für Scouting-Studien, "der Mehrwert der Daten ist nicht messbar, aber einige Informationen können sehr hilfreich sein." Zwei Beispiele: Nach der 0:4-Niederlage gegen Hoffenheim verstand der Mainzer Trainer Thomas Tuchel die Welt nicht mehr: "Wir hatten mehr Ballbesitz, mehr gewonnene Zweikämpfe, mehr Torschüsse. Dennoch haben wir verloren. In keiner anderen Sportart ist das möglich."
Andererseits, der Hoffenheimer Höhenflug in dieser Saison wird durch Zahlen plausibler. "In etwa 80 Prozent der Spiele ist unsere Mannschaft mehr gelaufen als der Gegner", sagt Spors. Vor allem aber: Hoffenheim hat 40 Prozent seiner insgesamt 30 Torchancen genutzt. Nur der 1.FC Köln, am Sonntag Gastgeber der Kraichgauer, hat mit 44 Prozent eine besseren Quote. Borussia Dortmund konnte dagegen nur 20,6 Prozent seiner 34 Tormöglichkeiten verwerten. Der Deutsche Meister belegt in dem Ranking den letzten Platz. Über Sinn und Unsinn der neuen Datenvielfalt sprach die RNZ jetzt mit 1899-Manager Ernst Tanner und Sportwissenschaftler Johannes Spors.
Seit Impire die Zahlen offenlegt, erscheinen in Boulevard-Zeitungen Titel wie "Der lauffaulste Profi der Bundesliga". Die Spielergewerkschaft monierte bereits, dass dadurch der Druck noch größer wird, die Gefahr von Depressionen zunehmen würde. Ernst Tanner: Druck haben wir alle in diesem Geschäft. Ich finde die Transparenz gut. Für den Trainer ist es eine Möglichkeit, seinen Spielern den Spiegel vorzuhalten und Kritik mit objektiven Zahlen zu belegen. Nicht zuletzt dienen die Zahlen auch dazu, sich im Training ganz gezielt mit den Stärken und Schwächen zu beschäftigen.
Johannes Spors: Die Daten können auch motivieren. Dominik Kaiser erfuhr nach seiner Bundesliga-Premiere , dass er eine tolle Passquote hatte.
Die Zahlen können aber auch zu falschen Schlüssen verleiten.
Spors: Sie bedürfen auf jeden Fall einer Interpretation. Wenn ich die Laufleistung bewerte, muss ich zum Beispiel wissen, dass Außenverteidiger von ihrer Position her mehr unterwegs sind als Innenverteidiger.
Tanner:Auch taktische Anweisungen und der Spielverlauf spielen eine Rolle. Wenn ein Profi mehr als 14 Kilometer zurücklegt, das Mittel ist zwischen zehn und zwölf Kilometern, muss man sich fast fragen, wo hat es ihn überall hin verschlagen. Und selbstverständlich gibt es auch Spieler, die gleichen mit dem Kopf aus, was andere in den Beinen haben müssen.
Vermutlich sind manche Werte nicht ganz einfach zu ermitteln?
Tanner: Richtig. Wo fängt ein Zweikampf an und vor allem, wo hört er auf. Wenn ein Spieler nach einem gewonnenen Zweikampf den Ball ins Aus kickt, geben ihm manche Analysten einen Punkt. Obwohl der Gegner den Ball hat.
Spors: Offensivspieler mit dem Ball am Fuß haben es sicher schwerer, gute Zweikampfwerte zu erzielen. Da sind die Defensivleute im Vorteil.
Tanner: Beim 3:1-Sieg gegen Wolfsburg hatten unsere Innenverteidiger Isaac Vorsah mit 89 und Marvin Compper mit 88 die meisten Ballkontakte. Was sagt uns das? Innenverteidiger müssen gute Fußballer sein, weil häufig bei ihnen der Spielaufbau beginnt.
Und wie ist es mit dem Übergewicht an Ballbesitz, das der Mainzer Tuchel nach der 0:4-Niederlage gegen Hoffenheim für seine Mannschaft monierte?
Spors: Der Ballbesitz entscheidet nicht über Sieg oder Niederlage. Es geht um die Qualität und nicht um die Quantität.
Tanner: Wenn ich den Ball tausendmal in der eigenen Hälfte hin und her schiebe, komme ich auf 80 Prozent Ballbesitz. Gewonnen werden Spiele aber heutzutage durch akkurates Umschalten von der Abwehr in den Angriff und schnelles Spiel in die Spitze.
Apropos Schnelligkeit, in der Halbzeit laufen Sie, Herr Spors, mit dem Laptop in die Kabine.
Spors: Falls es Trainer Holger Stanislawski wünscht, kann ich mit aktuellen Zahlen dienen. Oder Video-Sequenzen aus der ersten Halbzeit vorführen.
Welche Rolle spielen die Daten bei der Vorbereitung zum Beispiel aufs nächste Spiel am Sonntag in Köln?
Spors: Ich würde sagen, sie machen maximal zehn Prozent aus. Der Rest ist Aufarbeitung der Videos, die wir von den Kölner Spielen haben und mit denen man gut die Stärken und Schwächen analysieren kann. Und ganz wichtig sind und bleiben die persönlichen Eindrücke. Holger Stanislawski hat die Kölner am vorletzten Spieltag gegen den 1. FC Nürnberg beobachtet, einer unserer Scouts war letzten Samstag in Leverkusen.
Muss man befürchten, dass der Satz von Sepp Herberger bald nicht mehr gilt: Zum Fußball gehen die Leute, weil sie nicht wissen, wie’s ausgeht.
Tanner: Diese Sorge muss man nicht haben. Dafür gibt es zu viele Unabwägbarkeiten. Ich würde sogar sagen: Die Mannschaften mit den besten Daten müssen nicht unbedingt die Mannschaften sein, die am Ende in der Tabelle oben stehen. Der Fußball wird sich nie ganz vermessen lassen – und das ist gut so.