Heilbronn

Kein Schlussstrich unter dem NSU-Komplex

Bundesweites Theaterprojekt thematisiert auch den Mord an der Heilbronner Polizistin Michele Kiesewetter. 15 Tatort-Städte beteiligen sich.

11.10.2021 UPDATE: 12.10.2021 06:00 Uhr 2 Minuten, 39 Sekunden
An der Heilbronner Theresienwiese erinnert seit 2012 eine Gedenktafel an die Opfer des NSU-Trios, das am 25. April 2007 beim Trafo-Häuschen (rechts) die Polizistin Michele Kiesewetter ermordet und ihren Kollegen schwer verletzt hatte. Foto: Armin Guzy

Von Brigitte Fritz-Kador

Heilbronn. Zu den Tagen, die die Stadt und ihre Menschen nicht vergessen, gehört der 25. April 2007, ein sonniger Frühlingstag, an dem in Heilbronn seit dem frühen Nachmittag "nichts mehr ging". Die Stadt war abgesperrt, auf der Theresienwiese, auf der sich sonst bei Volksfesten und Messen die Massen tummeln, waren Schüsse gefallen. Sie töteten die junge Polizistin Michele Kiesewetter und verletzten ihren jungen Kollegen so schwer, dass er heute nur noch im polizeilichen Innendienst einsatzfähig ist.

Im Dienstwagen sitzend, hatten die beiden hier Mittagspause gemacht. Es dauerte, bis man es auch in Heilbronn nicht nur begriff, sondern es auch begreifen musste, dass dieser Mord in die Serie der "NSU-Morde" gehörte. 15 Städte, in denen die rechtsradikale Gruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" mordete und Spuren hinterließ, haben sich nun zusammengetan.

Die imponierende Zahl von Veranstaltungen und deren Ausrichter steht unter dem Motto "Kein Schlussstrich" als ein "bundesweites Theater-Projekt mit künstlerischen und zivilgesellschaftlichen Interventionen zum NSU-Komplex", wie es dazu heißt. Es geht vom 21. Oktober bis zum 7. November, in Heilbronn finden dazu mehrere Dutzend Veranstaltungen statt.

Hintergrund

> "Kein Schlussstrich!" entsteht in engem Austausch mit den ACAHVA Festspielen Thüringen, dem Maxim Gorki Theater Berlin, dem Theater Dessau, dem Staatstheater Hannover, den Kasseler Musiktagen, Desi Nürnberg, dem Kunstfest Weimar und dem Residenztheater München/Bayrisches

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> "Kein Schlussstrich!" entsteht in engem Austausch mit den ACAHVA Festspielen Thüringen, dem Maxim Gorki Theater Berlin, dem Theater Dessau, dem Staatstheater Hannover, den Kasseler Musiktagen, Desi Nürnberg, dem Kunstfest Weimar und dem Residenztheater München/Bayrisches Staatsschauspiel. Das bundesweite Programm zu "18 Tage – 18 Träger – 15 Städte" findet man unter https://kein-schlussstrich.de.

Infos zu den Heilbronner Veranstaltungen und Kartenreservierung unter www.theater-heilbronn.de/programm/kein-schlussstrich

Notwendig ist auch dieser Hinweis: "Die Veranstaltenden behalten sich vor, von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und Personen, die extrem rechten Parteien oder Organisationen angehören, der extrem rechten Szene zuzuordnen sind oder bereits in der Vergangenheit durch rassistische, nationalistische, antisemitische oder sonstige menschenverachtende Äußerungen in Erscheinung getreten sind, den Zutritt zur Veranstaltung zu verwehren oder von dieser auszuschließen."

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Träger des Projektes ist der Verein "Licht ins Dunkel", einer der Initiatoren ist der Heilbronner Intendant Axel Vornam, weitere "Mitmacher" sind das Nationaltheater Weimar, die Münchner Kammerspiele, die Staatstheater Kassel und Nürnberg, das Schauspiel Köln, die Kampnagelfabrik in Hamburg, die Theater von Chemnitz, Plauen und Rudolstadt, das Theaterhaus Jena und andere kulturelle Einrichtungen. Zu den Fördern gehören, angeführt von der Kulturstiftung des Bundes und der Bundeszentrale für politische Bildung, unter anderem das Hessische Kultusministerium und die Stadt München und von "privater" Seite beispielsweise die Rudolf-Augstein-Stiftung.

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Die Art und Weise, wie auch hier Land und Landtag agierten, die Ergebnisse der Untersuchungsausschüsse wie der polizeilichen Ermittlungen, auch wie diese verliefen, und die Folgen davon – das alles wird wesentliches Thema sein in Theaterprojekten, aber auch ein nachdrücklicher Blick darauf, wie die rechte Szene immer noch existiert und weiter agiert.

In Workshops, Podiumsdiskussionen, viele mit prominenter Besetzung, Ausstellungen und anderen Formaten soll dies aufgeklärt und aufgearbeitet werden. Auch Clemens Binninger, CDU, gelernter Polizist und Leiter des 2. NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags wie auch der Journalist Sven Ullenbruch werden kommen. Beide eint, dass für sie weder der NSU-Komplex als solcher noch der Mord an Michele Kiesewetter zu den Akten gehören.

Immer wieder, gerade auch jetzt, hört und hofft man von vielen Seiten auf neue Erkenntnisse in Bezug auf die Aufarbeitung der Mordtat wie auch bei der Darstellung von dessen Umfeld und Untergrund auch in Heilbronn, wo rechtsradikale Sumpfblüten bis heute ein geeignetes Biotop finden.

Ein herausragendes Projekt wird eine szenische Dokumentation zum Kiesewetter-Mord am Theater Heilbronn werden, mit dem Titel "Verschlusssache" und der Frage dazu: "Warum gerade Heilbronn?" Text, Regie und Konzept lagen bei Regine Dura und Hans-Werner Kroesinger. Sie zählen zu den renommiertesten Teams für dokumentarisches Theater und führten schon vergangenes Jahr in Heilbronn Interviews mit Zeitzeugen, Polizisten, Vertretern der Stadt, Journalisten, Kommunal- sowie Landes- und Bundespolitikern. Aus 950 Seiten Gesprächsprotokollen und umfangreichem Aktenstudium entstand unter der Mitwirkung der beiden Dramaturginnen am Theater Heilbronn, Dr. Mirjam Meuser und Sophie Püschel, die Bühnenfassung, und zwar ausschließlich aus Originaltexten. Premiere ist am 22. Oktober. Aufgezeigt werden die vielen Leerstellen und Pannen in der Bearbeitung des Kiesewetter-Mordes und wie er erst nach Enttarnung des NSU-Mörder-Trios diesem zugeordnet wurde.

Schmeichelhaft wird das weder für die Stadt noch für die Behörden werden. Das Studium vielfacher geschwärzter Akten dazu war nur in abgeschlossenen Räumen erlaubt, aus denen keine notierte Silbe mit nach draußen genommen werden durfte.

In Heilbronn wird "Kein Schlussstrich" auch im Stadtgeschehen sehr präsent sein. Das große Auftragswerk, das Oratorium "Manifesto", findet bei freiem Eintritt im Freien statt, weitere öffentliche Plätze mit Geschichtsbezug werden in verschiedensten Formaten bespielt. Auf der langen Liste der Teilnehmer, auch an vielen Podiumsdiskussionen, stehen Vertreter von Politik, Literatur, Theater, Musik, Film, Jugendorganisationen, von der Gruppe "Wehret den Anfängen" bis zum Türkischen Frauenverein. "Denn nur mit vereinten Kräften", sagen die Verantwortlichen vom Theater Heilbronn, "kann sich eine Stadtgesellschaft wirksam gegen das Vergessen stemmen und der zunehmenden rechten Tendenzen in Politik und Zivilgesellschaft erwehren, die auch vor Heilbronn nicht halt machen." Dass dann beim großen Abschlusskonzert auch das Polizeiorchester mitspielt, das steht auch für versöhnliche Töne.

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