Um 8.46 Uhr begann der Horror
Helden, Opfer und ein Ort der Erinnerung. Einige Bilder des 11. September werden viele nie vergessen.

Von Benno Schwinghammer und Christina Horsten
New York. Es sind Stunden, die die Welt veränderten. Der Ablauf der islamistischen Terroranschläge vom 11. September 2001 im minutengenauen Protokoll (New Yorker Ortszeit):
> 8.46 Uhr: Ein Flugzeug kracht zwischen dem 94. und dem 98. Stockwerk in den nördlichen der beiden Türme des World Trade Centers in New York. Augenzeugen glauben zunächst an ein Unglück. Die 3800 Liter Kerosin an Bord detonieren mit einem gewaltigen Feuerball. Knapp die Hälfte der tragenden Pfeiler sind beschädigt, mehrere hundert Menschen und alle Insassen des Flugzeuges sind sofort tot.
> 9.03 Uhr: Ein zweiter Jet fliegt in den Südturm. Die Boeing 767 schlägt in starker Seitenlage zwischen dem 78. und dem 84. Stockwerk ein. Ein gewaltiger Feuerball schießt auf der gegenüberliegenden Seite aus dem Gebäude. Zwei Drittel der tragenden Säulen des Südturms werden zerstört oder schwer beschädigt.
> 9.05 Uhr: US-Präsident George W. Bush wird beim Besuch einer Grundschule in Sarasota (Florida) informiert. Stabschef Andrew Card flüstert ihm zu: "Amerika wird angegriffen". Bush wird aschfahl, bleibt aber sitzen und hört den Kindern weiter zu.
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> 9.30 Uhr: Bush spricht vor Kameras von einer "nationalen Tragödie". Es handele sich "offensichtlich" um eine Terrorattacke.
> 9.37 Uhr: Ein drittes Flugzeug kracht ins Pentagon. Ein Teil des US-Verteidigungsministeriums wird verwüstet. Das Flugzeug schlägt in Höhe des ersten Stocks in das Gebäude ein. Das Pentagon, das Weiße Haus, weitere Ministerien und das Kapitol – Sitz des US-Kongresses – werden evakuiert.
> 9.59 Uhr: Der Südturm des World Trade Centers stürzt ein. Innerhalb von zehn Sekunden bricht der 410 Meter hohe Stahlkoloss in sich zusammen.
> 10.03 Uhr: Ein viertes Flugzeug stürzt südlich von Pittsburgh (Pennsylvania) nach einem Kampf im Cockpit auf freiem Feld ab. Passagiere hatten sich gegen die Entführer zur Wehr gesetzt. Diese wollten wohl Kurs auf das Weiße Haus oder das Kapitol nehmen.
> 10.28 Uhr: Der nördliche Turm des World Trade Centers stürzt ein.
> 12.16 Uhr: Die Bundesflugbehörde meldet, dass der Luftraum der USA gesperrt ist. Alle Maschinen müssen den nächstgelegenen Flughafen ansteuern. Nur Militär- und Rettungsmaschinen fliegen noch.
> 12.36 Uhr: Präsident Bush versichert in einer Ansprache, alle nötigen Sicherheitsvorkehrungen seien getroffen.
> 13.27 Uhr: In Washington wird der Notstand ausgerufen.
> 20.30 Uhr: Der US-Präsident kündigt in einer Fernsehansprache an, dass die Täter gnadenlos verfolgt werden: "Wir werden keinen Unterschied machen zwischen denen, die diese Attacken ausgeführt haben, und denen, die ihnen Schutz bieten."
Bob Beckwith wird langsam vergesslich. Manchmal stutzt der 89-Jährige mitten im Satz. Dann fragt er seine Frau, worüber er gerade geredet hat. Doch an den Moment vor 20 Jahren, als er Arm in Arm mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten vor der Weltöffentlichkeit stand, wird der ehemalige Feuerwehrmann sich immer erinnern. Es waren die Tage nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und Beckwith grub mit Hunderten Helfern in den Trümmern des World Trade Center nach Leben. Dann besuchte George W. Bush Ground Zero.

"Wir hatten keine Ahnung, dass der Präsident kommt. Und falls wir es wussten, hatten wir es vergessen", erzählt Beckwith. Er stand gerade auf einem zerstörten Feuerwehrwagen, als Bush auftauchte. "Und er kommt geradewegs auf mich zu, und er streckt den Arm aus, und ich ziehe ihn hoch". Die Bilder die folgen – Bush mit Megafon und dem Arm um Beckwith – gehen als Symbol amerikanischen Durchhaltewillens um die Welt. 20 Jahre später ist der Feuerwehrmann noch immer eines der Gesichter der Anschläge des 11. September.
Die Tage im Jahr 2001 gehörten zu den schlimmsten seines Lebens, sagt Beckwith. Er war schon längst pensioniert, doch als das World Trade Center auch über Hunderten Feuerwehrleuten zusammenstürzte, entschied er sich, seinen Kameraden zu helfen. "Ich kannte einige von diesen Jungs", meint er.
Zwei Jahrzehnte, nachdem Beckwith mit seiner Schaufel in dem Trümmerfeld grub, erfüllt heute das Geräusch plätschernden Wassers den ehemaligen Ground Zero. Die quadratischen Brunnen, gesäumt von Bäumen, symbolisieren die früheren Grundrisse des World Trade Center, an ihrem Rand sind die Namen der Opfer graviert.

"Nichts darf dort jemals wieder gebaut werden", dachte Stararchitekt Daniel Libeskind, als er wenige Wochen nach den Anschlägen im Regen zum Fundament der Türme hinabstieg. "Es war eine unheimliche, unheimliche Leere. Wenn du unten in der Grube bist und zurück auf die Straßen von New York schaust, sehen die Leute aus wie kleine Ameisen", erzählt er. Die Vision des Architekten, einen Ort der Erinnerung zu schaffen, wurde schließlich Wirklichkeit.
Wer heute an diesen Ort hinuntergeht, in die riesige Betonwanne des ehemaligen World Trade Centers, befindet sich in dem Museum, das Libeskind entworfen hat. Durch einen Raum hallen die aufgezeichneten Stimmen von Überlebenden. Sie erzählen von ihrer Flucht aus den Türmen. Einige Schritte weiter sprechen Angehörige die Namen ihrer ermordeten Freunde, Partner oder Kinder aus. Und auch ein Feuerwehrhelm ist ausgestellt – er gehört Bob Beckwith.
Die Bilder aus New York blieben im Gedächtnis. Doch die Trümmerhaufen des amerikanischen Schicksalstages türmten sich damals ebenso im Pentagon in Washington, in das eines der Flugzeuge hineinpflügte. Und auch auf einem Feld im Bundesstaat Pennsylvania, wo die vierte gekaperte Maschine durch das Eingreifen mutiger Passagiere abstürzte.

Unvergessen sind auch die Opfer, deren Bilder weltweite Erschütterung auslösten. So zum Beispiel die komplett mit Staub eingedeckte "Dust Lady" Marcy Borders, die nach dem 11. September zehn Jahre lang nicht arbeiten konnte. 2015 schließlich starb sie mit 42 Jahren an Krebs. Oder "The Falling Man", ein an der Fassade des Wolkenkratzers kopfüber hinunterstürzender Mann, an dessen verstörendem Foto sich auch viele Künstler abarbeiteten.
Es wurde nie zweifelsfrei geklärt, wer der "Falling Man" war. Und auch die Identität von vielen weiteren Toten bleibt ungeklärt – die Deutsche Mechthild Prinz arbeitete genau daran. Die heute 63-Jährige kam in den 90er Jahren nach New York. Als Gerichtsmedizinerin für die Metropole meldete sie sich am 11. September 2001 direkt für die Nachtschicht.
Auf der letzten Vermisstenliste der Anschläge in New York stehen 2753 Menschen. In der Gerichtsmedizin und bei Prinz in der forensischen Biologie wurden in den Tagen und Wochen danach 289 intakte Leichen und fast 22.000 Leichenteile angeliefert. Die Vorgabe: Alles, was aussieht wie menschliches Gewebe und größer ist als ein halber Daumen, muss getestet werden. Die Ergebnisse werden abgeglichen mit Informationen und Materialien, die die Familien der Vermissten abgegeben haben. "Das war rund um die Uhr, Tag und Nacht", erinnert sich Prinz. "Ich glaube, ich war zwei Tage zu Hause bis Dezember." Die Arbeit dauert noch immer an. Erst 60 Prozent der Opfer sind identifiziert. Mit immer neuen Technologien und Methoden wird an den verbliebenen Überresten gearbeitet.
Doch während New York trotz Corona-Rückschlägen wieder blüht, zahlten viele der Helden vom 11. September, die tagelang Giftstoffen ausgesetzt waren, einen hohen Preis. Bob Beckwith muss in einigen Tagen wieder in die Klinik: "Ich werde zum vierten Mal im Krankenhaus operiert, wegen bösartiger Melanome in meinem Gesicht", erzählt er.