Wie der 11. September die Sicherheitsgesetze beeinflusst hat
Die Anschläge haben teils bis heute noch Folgen auf die deutsche Politik. Eine Chronik.

Von Daniel Bräuer
Berlin. Es dauerte nur eine gute Woche nach den Anschlägen in den USA: Schon am 19. September 2001 brachte die Bundesregierung ein erstes Sicherheitspaket auf den Weg. Der federführende SPD-Innenminister Otto Schily ließ noch im gleichen Jahr einen zweiten Teil dessen folgen, was die Öffentlichkeit bald halb scherzhaft den "Otto-Katalog" nannte. Ausgerechnet der frühere Grünen-Politiker, der in den 70er-Jahren als Anwalt Terroristen der ersten RAF-Generation wie Gudrun Ensslin oder Andreas Baader vor Gericht vertreten hatte, gab nun den härtesten Anti-Terror-Kämpfer Deutschlands. Es ging um tiefe Einschnitte in die Grundrechte vieler Bürger, von denen manche später vor dem Bundesverfassungsgericht scheiterten. Manche davon prägen den Alltag bis heute. Und späteren Anschlägen folgten weitere Reformen. Die "Sicherheitsarchitektur" der Republik ist nach 9/11 eine andere, als sie es vorher war. Eine Chronik:
Rauchen für mehr Sicherheit
Das erste Sicherheitspaket der Regierung gleich nach 9/11 verteilt insgesamt drei Milliarden Mark für mehr Personal und Technik bei Polizei und Bundeswehr – finanziert durch eine höhere Tabaksteuer. Personal im Luftverkehr soll genauer überprüft werden. Besonders bei Neueinstellung sind künftig Daten von Militärischem Abschirmdienst, Bundesnachrichtendienst, Ausländerzentralregister oder Stasiakten-Behörde zu Rate zu ziehen, um zu verhindern, dass mögliche Terrorhelfer in sensiblen Bereichen arbeiten. Dazu zählen auch Kliniken, Energieversorger und Radiosender.
Zugleich schafft der Bund einen neuen Straftatbestand: Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (§ 129b StGB), die keine Taten im Inland begeht. EU-weit war dies schon drei Jahre zuvor als Rechtslücke identifiziert worden. Außerdem wird das "Religionsprivileg" im Vereinsrecht gestrichen: Auch Gruppen mit religiösen Zielen können fortan verboten und aufgelöst werden. Bislang galten für sie weniger strenge Kontrollen und Auflagen als für andere Vereine. Die Maßnahme zielt vor allem auf den "Kalifatstaat" des Kölner Islamistenpredigers Metin Kaplan.
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Der neue Otto-Katalog
Noch Ende des Jahres folgt Schilys zweites große Sicherheitspaket. Das Bundeskriminalamt erhält neue Kompetenzen und kann künftig auch ohne die Einschaltung der Länderpolizei Auskünfte einholen. Verfassungsschutz und andere Geheimdienste dürfen bei Banken, Fluglinien, Post- und Kommunikationsdienstleistern Daten einholen, um die Geldströme von Terrororganisationen aufzudecken, außerdem dürfen sie Handys orten.
Für den Einsatz von "Sky Marshals", bewaffneten Flugbegleitern, stellt das Gesetz klar: Dies dürfen nur speziell geschulte Beamten des Grenzschutzes sein – nicht private Sicherheitsdienste.
Um das Paket entwickelt sich ein Streit zwischen der rot-grünen Regierung und der Opposition: Vor allem die Union will ihre Zustimmung von einem Kompromiss beim Zuwanderungsgesetz abhängig machen. Im Bundesrat trägt sie den "Otto-Katalog" dann doch mit, obwohl sie ihn gerne noch verschärft hätte.
Zudem enthält das Paket bereits etliche ausländerrechtliche Regelungen: Ausweisungsgründe werden präzisiert und teils verschärft; in Asylverfahren ist künftig eine Sprachanalyse zulässig, um die Herkunft von Bewerbern zu bestimmen. Das Ausländerzentralregister wird zur Visa-Entscheidungsdatei ausgebaut, der Zugriff automatisiert.
Kettenbefristung
Die Regeln werden zunächst auf fünf Jahre befristet. 2006 verlängert die Große Koalition sie und weitet dabei die Befugnisse der Geheimdienste aus.
2011 werden sie erneut verlängert, immerhin setzt die schwarz-gelbe Koalition nun eine systematische Evaluierung ein. 2015 die nächste Verlängerung unter dem Eindruck des IS in Syrien und im Irak: Behörden können Islamisten künftig den Ausweis entziehen, um Reisen ins Kampfgebiet zu verhindern. Im Herbst 2020 beschließt die nächste Große Koalition, die Regeln auf Dauer festzuschreiben. Laut jüngsten vorliegenden Daten forderten die Geheimdienste 2019 rund 100 mal Dateneinsicht. Befürworter sehen darin den Beleg, dass eben keine Massenüberwachung laufe.

Der Einstieg in die Biometrie
Das Gesetz aus dem Dezember 2001 legt die Grundlage, um neben Foto und Unterschrift weitere biometrische Merkmale in verschlüsselter Form in Ausweispapiere aufzunehmen. Zunächst gilt das nur für Visadokumente. Doch steter Tropfen höhlt den Stein: 2005 werden biometrische Fotos, 2007 Fingerabdrücke in Reisepässen Pflicht, später auch bei Personalausweisen zunächst als Option möglich. Dabei bleibt es nicht: Seit August 2021 muss nun jeder Deutsche, der einen Ausweis beantragt, auch seine Fingerabdrücke hinterlegen.
Grobes Raster
Direkt nach 9/11 suchten die Länder fieberhaft nach potenziellen Schläferzellen wie jener, die in Hamburg die Flugzeugentführungen geplant hatte. Das Mittel der Wahl: Die "präventive Rasterfahndung", Durchsuchen großer Datenmengen nach Merkmalen wie: Student, männlich, arabischer Herkunft, technisches Studienfach, keine Mietschulden. Drei Länder mussten dies 2002 erst einmal in ihren Polizeigesetzen verankern. Doch 2006 schließlich schränkt das Verfassungsgericht die Praxis drastisch ein und erlaubt sie nur noch bei "konkreter Gefahr". Die allgemeine Lage seit 9/11 sei dafür kein Grund mehr, so die Richter. Pikant: Bis April 2004 war aus 8,3 Millionen Datensätzen ein einziges Verfahren eingeleitet worden. Es wurde eingestellt.
Karlsruhe, immer wieder Karlsruhe
Es ist nicht das einzige Sicherheitsgesetz, das die Verfassungsrichter kassieren. Spektakulärstes Beispiel: Das Luftsicherheitsgesetz aus der Feder des Innenministers Wolfgang Schäuble (CDU). Es sieht vor, dass die Bundeswehr ein entführtes Flugzeug, das wie an 9/11 zur Waffe gegen andere wird, vom Himmel schießen dürfte. 2006 legt Karlsruhe das Veto ein: Der Gesetzgeber darf nicht Leben gegen Leben aufrechnen, darf nicht Unschuldige töten, um andere zu retten. 2012 ändert das Gericht in einem Detail seine Linie: Es erklärt in extremen Ausnahmesituationen militärische Gewalt auch im Inland für zulässig. Der Abschuss Unschuldiger bleibt aber tabu.
Auch das ewige Streitthema Vorratsdatenspeicherung beschäftigt die Justiz mehrfach. Wer war wann im Internet, hat mit wem telefoniert, wem geschrieben? All das sollen Anbieter für sechs Monate speichern. 2010 erklärt Karlsruhe das Gesetz für nichtig und stellt für eine Neuregelung enge Grenzen auf und hohe Anforderungen an den Datenschutz. Doch die kommt in der Praxis nie: Mittlerweile hat der EuGH die zugrundeliegende EU-Richtlinie gekippt und nationale Regelungen verboten. De facto ist das deutsche Gesetz ausgesetzt, nun wartet alles erneut auf einen Spruch des EuGH.
2020 setzen die Richter schließlich auch der Auslandsaufklärung des BND Grenzen der Verhältnismäßigkeit: Grundrechte gelten für alle, weltweit. Und schon 2008 haben sie in der Diskussion über "Trojaner"-Spähsoftware (siehe unten) ein neues Grundrecht aus dem Boden gestampft: Auf "Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme".
Die Polizei und die Dienste
Die Arbeit von Polizei und Geheimdiensten soll in Deutschland strikt getrennt bleiben – eine Lehre aus der NS-Zeit. Im 2004 eingerichteten Gemeinsamen Terror-Abwehr-Zentrum GTAZ tauschen sich dennoch alle Landespolizeien, BND und Verfassungsschützer über ihre Erkenntnisse aus – organisatorisch auf dem Papier voneinander getrennt. 2007 folgt die einheitliche Terrordatei. In der Zwischenzeit hatten die Kölner Kofferbomber im Märchensommer 2006 und die "Sauerlandgruppe" das Land aufgeschreckt. All das kann nicht verhindern, dass die Experten den späteren Breitscheidplatz-Attentäter Anis Amri 2016 unterschätzen und aus den Augen verlieren.
Zu diesem Zeitpunkt ist nach Vorbild des GTAZ auch ein Zentrum gegen rechte und andere politische Extremisten errichtet worden.

Nicht ohne meinen Gefrierbeutel
Nachdem die britische Polizei im August 2009 am Flughafen Heathrow Anschläge vereitelt, verschärfen zunächst die USA ihre Regeln fürs Handgepäck. Bald ziehen die EU-Staaten nach. Ab 6. November dürfen Flüssigkeiten nur noch in eng begrenzten Mengen ins Handgepäck: Maximal 100 Milliliter pro Getränk, Handcreme, Kontaktlinsenmittel oder Parfum. Und alles muss in einem durchsichtigen Plastikbeutel von maximal einem Liter Inhalt stecken. In den ersten Tagen sind die Staus und Müllberge an den Flughäfen beträchtlich. Warum ein Deoroller ohne Plastikbeutel gefährlich wäre, wird nie so ganz klar. Dennoch gilt die Regel bis heute, seit 2014 mit Ausnahmen für wichtige Medikamente, Babynahrung und Duty-Free-Einkäufe.

Der Streit um die Körperscanner
An Weihnachten 2009 wird in den USA ein weiterer Sprengstoffanschlag an Bord eines Flugzeugs vereitelt. In Deutschland setzt eine Debatte über den Einsatz von "Körperscannern" ein, die Dinge entdecken sollen, die Metalldetektoren übersehen. Plastiksprengstoff und Keramikmesser zum Beispiel. Die USA testen sie schon seit dem Fall des "Schuhbombers" Richard Reid 2001. Doch Datenschützer sind empört: Passagiere bis auf die Haut zu durchleuchten, sodass Security sie praktisch nackt sehen kann, sei würdelos. Der damalige CSU-Innenminister Hans-Peter Friedrich legte das Projekt wegen zu vieler Fehlalarme erst einmal auf Eis. Inzwischen sind Körperscanner an etlichen Flughäfen im Einsatz, auch am BER. Der Kompromiss: Die Geräte bilden Körper nicht im Detail ab, sondern stilisiert, und zeigen an, wo sich Gegenstände befinden.
Noch mehr neue Straftaten
2009 schließt der Bund weitere Gesetzeslücken mithilfe neuer Straftatbestände: Die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Tat wird strafbar, ebenso die bloße Kontaktaufnahme mit dem Ziel, eine solche Tat zu begehen. Dies gilt zum Beispiel für eine Reise in ein Ausbildungslager einer Terrororganisation. Später kommt noch Terrorfinanzierung hinzu. Kritiker bemängeln, dass die Regeln sehr unbestimmt sind, die Schwelle zum Anfangsverdacht niedrig.
Noch ein Paket
2016, kurz nach der Terrorwelle in Frankreich, beschließt der Bundestag ein weiteres Anti-Terror-Paket. Der Austausch mit ausländischen Diensten soll verbessert werden. Wer ein Prepaid-Handy kauft, muss den Personalausweis vorzeigen. Und auch die Bundespolizei kann nun verdeckte Ermittler einsetzen.
Der Staatstrojaner und die TKÜ
Darf der Staat als Hacker Computer und Telefone infiltrieren und dort über eingeschmuggelte Spähprogramme (sog. "Trojaner") Festplatten aus der Ferne durchsuchen oder Gespräche und Chats mitverfolgen? Ja, sagt die Bundesregierung in einem Programm 2006. Doch sowohl Online-Durchsuchung als auch "Quellen-Telekommunikationsüberwachung" (kurz: Quellen-TKÜ) bleiben umstritten, bis hinauf zum BGH. 2008 fällt das Verfassungsgericht ein erstes Grundsatzurteil: Staatstrojaner sind nicht per se verboten, aber nur in sehr engen Grenzen erlaubt. Das heißt: Nur auf richterliche Anordnung, nur zur Aufklärung bestimmter schwerer Straftaten oder zur Abwehr konkreter Gefahren für ein hohes Rechtsgut. Und im engsten Privatbereich muss der Staat weghören. Dennoch wird 2012 bekannt, dass das BKA etwa auch Telefonsex protokolliert hat.
2017 wird der Trojanereinsatz in der Strafprozessordnung geregelt, in dieser Zeit schreiben ihn auch einige Bundesländer in ihre Polizeigesetze, darunter Baden-Württemberg.
Jüngster Stand: Seit Sommer 2021 erlaubt das Verfassungsschutzgesetz auch den Geheimdiensten den Einsatz von Software, um verschlüsselte Kommunikation via Whatsapp & Co. mitlesen zu können. Die FDP klagt dagegen. Kurz darauf urteilt das Verfassungsgericht in einem anderen Fall: Polizei-Trojaner sind grundsätzlich zulässig. Aber es braucht Regeln, wie mit Sicherheitslücken umzugehen ist, die die Hersteller selbst noch nicht kennen. Denn im Interesse der Ermittler wäre es, sie nie zu schließen.
Weitergehende Pläne
Vor allem Schäuble regte als Innenminister (2005-09) immer noch drastischere Änderungen an: So drang er auf mehr Möglichkeiten, die Bundeswehr im Inneren einzusetzen, und dachte laut darüber nach, unter Folter abgelegte Geständnisse oder die gezielte Tötungen von Terroristen zuzulassen, wie sie die USA praktizieren. Er scheiterte damit am Widerstand von Opposition und Koalitionspartnern.