Das sind die Baustellen beim Klimaschutz im Südwesten
Der Klimaschutz gilt nicht nur bei der Ökostrom-Produktion als politische Jahrhundertaufgabe.

Von Jens Schmitz, RNZ Stuttgart
Philippsburg/Stuttgart. Das alte Kernkraftwerk neben den Philippsburger Rheinauen ist seit mehr als einem Jahr abgeschaltet; vergangenen Mai wurden die Kühltürme gesprengt. Auf ihrem Grundriss jedoch herrscht jede Menge Aktivität: Eine Fläche von 14 Fußballfeldern wurde vier Meter hoch aufgeschüttet. Tausende Tonnen Baustahl versanken in einem 40.000 Quadratmeter großen Fundament. Inzwischen wächst eine zwanzig Meter hohe Fassade.
"Das ist ein sehr spannendes Projekt", sagt David Moser, Pressesprecher der Netzbetreibergesellschaft TransnetBW. "Da wird die Energiewende Realität!" Das Projekt ist ein 500 Millionen Euro teures Umspannwerk. Bis 2025 soll der Konverter Ökostrom aus norddeutschen Windparks an Baden-Württembergs Netz anbinden.
Wer über Klimaschutz-Aufgaben der nächsten Landesregierung nachdenkt, muss wissen: Allein kann der deutsche Südwesten die Energiewende nicht bewältigen. 2019 lag der Bruttostromverbrauch bei 70,6 Terawattstunden (TWh), die Bruttostromerzeugung bei 57,7 TWh. Rund 13 TWh müssen also bereits jetzt importiert werden. Mit dem fortschreitenden Verzicht auf Kohle- und Atomstrom wächst diese Diskrepanz.
Während die großen deutschen Verbrauchsregionen im Süden und Westen liegen, stammt der meiste Ökostrom aus norddeutschen Windparks. "Wir haben schon jetzt das Problem, dass wir in Norddeutschland sehr viel mehr produzieren als abtransportiert werden kann", sagt Moser. "Wir kloppen sprichwörtlich den Grünstrom in die Tonne."
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Deshalb setzt die Energiewende auf große Stromautobahnen, im Fachjargon Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungs-Leitungen (HGÜ). Das Ausbauprojekt "Ultranet", zu dem der TransnetBW-Konverter gehört, wird von Nordrhein-Westfalen nach Philippsburg verlaufen. Eine ähnliche Trasse ist als Teil des "SuedLink"-Projekts zwischen Schleswig-Holstein und Großgartach geplant. Sie soll auch norwegische Wasserkraft einbinden.
Die Gleichstrom-Übertragung hat geringe Transportverluste, das macht lange Leitungen attraktiv. "Man kann vor- und zurückspeisen", erklärt Baukontrolleur Roland Dossinger. "Wir können also Strom von der Nordsee beziehen, und wir können auch Leistung hinunterliefern. Wenn wir zu viel Photovoltaik haben, werden wir wahrscheinlich hinunterliefern." Die Wind-Turbinen ganz den Norddeutschen überlassen könne man trotzdem nicht, schränkt Moser ein. Schon der Netzstabilität wegen müsse Baden-Württemberg so viel Ökostrom wie möglich selbst produzieren.
Auf große Teile der Klimapolitik hat die Landesregierung allenfalls indirekt Einfluss. CO2-Grenzwerte werden in Brüssel festgelegt. Kohleausstieg, CO2-Preise, das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) oder Effizienzstandards regelt Berlin. Dem Land bleiben Instrumente wie Beratung, Förderung und ordnungsrechtliche Maßnahmen, wo der Bund Lücken lässt. Im Ländervergleich landete Baden-Württemberg beim letzten Ranking der Berliner Agentur für Erneuerbare Energien zwar wieder auf einem Spitzenplatz. Aber das genügt nicht, um die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens oder die neuen EU-Vorgaben zu erreichen.
Die größten Brocken sind die Sektoren Wärme und Verkehr. Als bislang einziges Bundesland hat Baden-Württemberg ein Erneuerbare-Wärme-Gesetz für Heizanlagen. Dennoch heizen rund 33 Prozent aller Haushalte mit Öl. Parallel gibt es große Spielräume bei der Effizienz. Rund 70 Prozent der Wohngebäude wurden vor der ersten Wärmeschutzverordnung 1977 errichtet.
Das Thema Verkehr gehörte in der laufenden Legislatur zu den größten Streitpunkten. Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) hält es für nötig, bis 2030 den Öffentlichen Verkehr zu verdoppeln, den Kfz-Verkehr in Städten um ein Drittel zu reduzieren, jedes dritte Auto klimaneutral anzutreiben und jede dritte Tonne im Güterverkehr klimaneutral zu transportieren. Außerdem müssten die Bürger jeden zweiten Weg per Fahrrad oder zu Fuß zurücklegen. Zielvorgaben, die der Koalitionspartner CDU als "ökologische Planwirtschaft" abgelehnt hat. Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut und ihre Parteifreunde setzen vor allem auf technische Innovation.
Eine Studie des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft sieht das Metropolgebiet Stuttgart auf Platz zwei unter den deutschen Wasserstoffregionen, dicht gefolgt vom Rhein-Neckar-Raum. Der Rheingraben und Oberschwaben bieten gute Bedingungen für Geothermie. Im Schwarzwald werden Lkw mit E-Antrieb, Brennstoffzellen, synthetischen Kraftstoffen und Oberleitung getestet.
Wenn der von vielen Akteuren diskutierte vorgezogene Kohle-Ausstieg bis 2030 gelingen soll, muss vor allem die Öko-Stromproduktion erhöht werden. Zuletzt waren gut 6100 Megawatt Photovoltaikleistung installiert und gut 1600 Megawatt Windkraft. Die Plattform EE BW empfiehlt dem Land für die nächsten zehn Jahre einen jährlichen Zuwachs von 870 Megawatt Photovoltaik und 325 Megawatt Windkraft pro Jahr.
Zur Photovoltaik hat der Landtag eine Solarpflicht auf neuen Nicht-Wohngebäuden und größeren Parkplätzen beschlossen. Die nächste Novellierungsdebatte wird aber sicher auch Wohngebäude betreffen. Auch die Solarstromerzeugung auf freier Fläche wird ausgebaut werden müssen.
In Donaueschingen stapft Christian Meyer durch einen tief verschneiten Solarpark und sieht höchst zufrieden aus: "Jetzt mit Schnee ist es natürlich grandios", sagt der Projektentwickler. "Auf unserer Anlage bleibt er nämlich nicht liegen. Und wir haben bis zu 40 Prozent höhere Erträge durch die Reflexion."
Der 32-Jährige arbeitet für das Freiburger Büro der Firma Next2Sun, die ein einfaches Patent ersonnen hat: vertikal montierte Solarmodule. Das ist selbst in der noch jungen Agro-Photovoltaik (Agro-PV) ein Novum. In Baden-Württemberg herrscht durch den Wohnungsmangel ohnehin Flächennot. Großflächige Photovoltaikanlagen erhöhen den Druck auf die Landwirtschaft. Als Agro-PV werden Solarparks bezeichnet, in denen auch bäuerliche Bewirtschaftung möglich ist. Die Ergebnisse sind aber oft noch im Versuchsstadium – Konstruktionen mit Überdachung sind aufwendig und nicht für alle Gewächse geeignet.
Die vertikale Ausrichtung bei Donaueschingen dagegen wird seit Oktober kommerziell genutzt. Auf einer Fläche von 14 Hektar sind hier 11.000 Solarmodule verbaut, die von beiden Seiten Energie aufnehmen. Der Abstand zwischen den knapp drei Meter hohen Reihen beträgt zehn Meter, so dass landwirtschaftliche Maschinen die Fläche gut befahren können. Sie wird als Grünland zur Produktion von Silage genutzt. "Es bleiben über den Daumen gepeilt 90 Prozent der Solarparkfläche für die landwirtschaftliche Nutzung erhalten", sagt Meyer.
Er zählt weitere Vorteile auf: den Schutz vor Wind und Bodenerosion. Eine fünf Prozent höhere Stromausbeute als bei flach montierten Modulen. Antizyklisch orientierte Einspeisung morgens und abends, die auch dort noch Projekte ermöglicht, wo Netzkapazitäten am Limit sind. Die Option, schmale Biodiversitätsstreifen anzulegen.
Der Agrarausschuss des Landtags hat Agro-PV nach einer Expertenanhörung im Herbst großes Potenzial bescheinigt. Die Fachleute hatten allerdings auch auf Hausaufgaben verwiesen: Baugenehmigungen seien bislang schwer zu bekommen. Das EEG lasse auf landwirtschaftlichen Nutzflächen erzeugten Strom außen vor. Und Agrarsubventionen für Flächen mit Photovoltaik seien bislang verboten. "Das ist natürlich von Landwirten immer eine der ersten Fragen", bestätigt Meyer: "Erhalte ich denn meine Prämie?"
Bei Bauern, Naturschutzbehörden und Gemeinden registriert der Projektplaner zunehmend Interesse an seinem Ansatz. Er würde sich wünschen, dass entsprechende Anlagen gesondert gefördert werden. "Die Ziele sind hoch gesteckt, wenn wir wirklich die Energiewende schaffen wollen."