Atomare Altlasten

Corona verzögerte Castor-Transporte nach Biblis nur

Vorbereitungen für Lieferung wieder aufgenommen. Umweltschützer und Atomgegner sehen bei der Zwischenlagerung allerdings Sicherheitslücken

28.09.2020 UPDATE: 29.09.2020 06:00 Uhr 3 Minuten, 15 Sekunden
In Biblis hat man Erfahrung mit der gefährlichen Fracht: Ein Kran hebt im Mai 2018 einen blauen Castorbehälter in das Innere eines der Reaktorblöcke des Atomkraftwerks. Foto: Boris Roessler

Von Oliver Pietschmann und Carsten Blaue

Biblis. Zu seinen besten Zeiten versorgte das Kernkraftwerk in Biblis in bis zu sechs Millionen Haushalten die Steckdosen mit Atomstrom. Heute sind die Leitungen tot. Die atomaren Altlasten aber bleiben – nicht nur an diesem Standort.

Die Silhouette des Kernkraftwerks Biblis in Südhessen ist in der Region weithin sichtbar. Hier wird aber kein Strom mehr erzeugt. Aus den wuchtigen vier Kühltürmen der zwei Kraftwerksblocks steigt kein Dampf mehr auf. Nach dem katastrophalen Reaktorunglück im japanischen Fukushima mit Tausenden Toten im März 2011 sollen in Deutschland spätestens Ende 2022 die letzten Atommeiler vom Netz gehen. Für die Blöcke in Biblis ist aber längst Schluss. Was bleibt, ist der hochgefährliche, strahlende Müll, der auch in einem Zwischenlager in Biblis steht.

Zurzeit sind nach Angaben des hessischen Umweltministeriums am früher einzigen Standort eines Atomkraftwerkes im Land 102 Castor-Behälter mit Brennelementen gelagert. Weitere sollen möglicherweise noch dieses Jahr hinzukommen. Auf Dauer soll das radioaktive Erbe des Atomstrom-Zeitalters in Deutschland aber nicht in solchen Zwischenlagern, sondern in einem Endlager deponiert werden. Die schwierige Standortsuche läuft.

Jetzt wurde ein Zwischenbericht vorgestellt für Gebiete, die genauer für die Endlagerung des mehrere Tausend Jahre strahlenden Abfalls unter die Lupe genommen werden sollen – darunter auch die Main-Tauber-Region, die aber laut Experten am Ende verschont bleiben dürfte.

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Die Suche ist weiterhin kein leichtes Unterfangen, denn welche Gemeinde will schon vor der eigenen Haustür ein solches Grab hochgiftiger Abfälle haben? Um den Salzstock im niedersächsischen Gorleben, in den schon viel Geld investiert worden ist, gibt es seit Jahrzehnten Proteste und gewalttätige Auseinandersetzungen. Bis 2013 wurden Castor-Behälter meist dorthin transportiert. Heute ist alles anders.

Seit 2013 müssen die verbliebenen Abfälle an den Standorten der Kraftwerke aufbewahrt werden – auch in Biblis. Deutsche Energieversorger ließen bis 2005 ihre Brennelemente in Großbritannien und Frankreich aufarbeiten. Die dabei entstandenen flüssigen Abfälle wurden in Glas geschmolzen und nach und nach zurücktransportiert. Eine solche Lieferung erwartet man auch wieder in Biblis.

Bereits im Frühjahr sollten sechs Castoren aus der atomaren Wiederaufarbeitungsanlage im britischen Sellafield nach Südhessen kommen. Die Polizei dort bereitete sich bereits auf den Transport der strahlenden Fracht vor. Die Corona-Krise machte den Sicherheitskräften aber einen Strich durch die Rechnung. Mittlerweile sind die Vorbereitungen für den Rückführungstransport aus Sellafield nach Biblis aber wieder aufgenommen worden.

Aktivisten gegen Atomkraft gehen davon aus, dass die Castoren noch in diesem Herbst kommen. Umweltschützer und Atomgegner sehen bei der Zwischenlagerung in Biblis allerdings Sicherheitslücken, wie zu wenig Schutz vor einer terroristischen Bedrohung. Zudem stellt sich die Frage, warum sie nach Biblis kommen, wenn sie später weiter in ein Endlager gebracht werden müssen.

Es ist ein Hick-Hack um Altlasten der beiden Blöcke von Biblis, die laut dem Sprecher des Energieversorgers RWE, Alexander Scholl, einst unter Volllast bis zu sechs Millionen Haushalte mit Strom versorgen konnten. Aus den Reaktoren kommt heute kein Strom mehr in irgendeiner Steckdose an. Nach dem Atomausstieg Deutschlands im Zuge der Fukushima-Katastrophe 2011 wurde kurz danach auch das Kraftwerk Biblis stillgelegt. Seit 2017 wird es zurückgebaut.

"Der Rückbau geht von innen nach außen", sagt Scholl. "An der Silhouette wird sich bis 2032 nichts ändern." Bis dahin solle das Kraftwerk aus dem Atomgesetz entlassen werden. Heißt: Alle Gebäude sind ausgeräumt, und es gibt dort nachgewiesen keine Aktivität mehr. Die Brennstäbe sind mittlerweile aus beiden Blöcken entfernt. "Wir sind mit beiden Blöcken brennstofffrei." Scholl sagt: "Ab einem Punkt X kann man sich dann Gedanken um eine Nachnutzung machen." Derzeit werde im Inneren am Aufbau einer Art Fabrik gearbeitet, mit der belastetes Material so bearbeitet werden solle, dass es in den Wertstoffkreislauf zurück könne.

Beim Rückbau der Kontrollbereiche werden dem Umweltministerium zufolge rund 340.000 Tonnen Material anfallen. Darunter sind auch 63.000 Tonnen radioaktive Reststoffe, von denen der größte Teil konventionell verwerter werden könne. "Circa 5800 Tonnen müssen voraussichtlich als radioaktiver Abfall in ein Endlager des Bundes abgeliefert werden", teilt das Ministerium mit. Die Kosten schätze man auf rund eine Milliarde Euro.

Standortzwischenlager für abgebrannte Brennelemente gibt es auch an den Kraftwerksstandorten des Karlsruher Energieversorgers EnBW in Neckarwestheim und Philippsburg. In Philippsburg hat das Lager nach Unternehmensangaben 152 Stellplätze für Castoren. Im Jahr 2007 nahm es seinen Betrieb auf. Momentan sind hier 62 Behälter mit hoch radioaktivem Material eingelagert – abgebrannte Brennelemente direkt aus Block 1. Weitere 40 Behälter mit Brennelementen aus Block 2 sollen laut Medienberichten folgen. Nicht vor dem kommenden Jahr sollen in Philippsburg zudem fünf Castoren aus der Wiederaufbereitungsanlage in La Hague eingelagert werden.

In Neckarwestheim ist Platz für 151 Behälter mit Brennelementen, 125 davon für die Zwischenlagerung aus den beiden Kraftwerksblöcken des Standorts selbst, die Ende 2006 mit dem ersten Castor-Behälter begann. Weil es die Kapazitäten in Neckarwestheim noch zuließen, erteilte das Bundesamt für kerntechnische Entsorgungssicherheit im August 2016 die Genehmigung, auch 15 Castoren aus Obrigheim einzulagern. Hier war der Bau eines Zwischenlagers daher überflüssig.

Im Jahr 2017 wurden die Behälter in fünf Aktionen und teils unter massiven Protesten 40 Kilometer flussaufwärts nach Neckarwestheim verschifft. Es war das erste Mal, dass Castoren auf einem Binnengewässer transportiert wurden. Seit dem 1. Januar 2019 wird das Zwischenlager in Neckarwestheim nicht mehr von der EnBW betrieben, sondern von der bundeseigenen Gesellschaft für Zwischenlagerung (BGZ).

Hintergrund

> Castoren sind spezielle Behälter für radioaktive Abfälle und abgebrannte Brennstäbe aus Atomkraftwerken. In diesen Behältern kann der Atommüll gelagert oder transportiert werden. Castor steht für "Cask for storage and transport of radioactive material" (Behälter für

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> Castoren sind spezielle Behälter für radioaktive Abfälle und abgebrannte Brennstäbe aus Atomkraftwerken. In diesen Behältern kann der Atommüll gelagert oder transportiert werden. Castor steht für "Cask for storage and transport of radioactive material" (Behälter für Lagerung und Transport von radioaktivem Material). Für den bevorstehenden Transport vom englischen Sellafield nach Biblis werden der Gesellschaft für Nuklear-Service zufolge Castoren vom Typ HAW28M benutzt. Radioaktive Abfälle werden zu einem Glasprodukt verarbeitet und in Edelstahlbehälter eingeschlossen. Ein Castor kann jeweils 28 dieser Behälter aufnehmen und wiegt dann rund 120 Tonnen. lsw

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