Heidelberg

Dramatische vier Stunden nach dem Chemieunfall (plus Fotogalerie)

Wegen einer Qualmwolke wurde am Samstag gegen 6 Uhr die A5 komplett gesperrt – Kurz vor 10 Uhr kam endlich die Entwarnung – Behörden: Es bestand keine Gesundheitsgefährdung

02.02.2019 UPDATE: 02.02.2019 12:15 Uhr 2 Minuten, 34 Sekunden
Foto: PR Video

Von Micha Hörnle

Heidelberg. Wegen eines Chemieunfalls am frühen Samstagmorgen wurden die Bewohner des Stadtteils Wieblingen, aber auch des benachbarten Edingens, per Rundfunk und per Katastrophen-Warn-App "Nina" aufgefordert, die Fenster geschlossen zu halten und möglichst im Haus zu bleiben - zumal es deutlich "nach Chemie" roch. Zeitgleich wurde auch die Autobahn A5 in beide Richtungen komplett gesperrt, weil eine dunkle Wolke über die Autobahn zog. Das führte auch zur ersten Vermutung, es hätte in einer Chemiefabrik gebrannt.

Allerdings lagen die Dinge etwas anders: Bei der Firma Rematec, einer Recycling-Tochter der chemischen Werke Kluthe - sie liegt im Industriegebiet Wieblingen, direkt an der A5 -, war es kurz vor 5.50 Uhr zu einer ungewollten chemischen Reaktion aus Rückständen gekommen. Da die Firma zu diesem Zeitpunkt nicht besetzt war, bemerkte der Pförtner den Qualm und löste die Alarmkette aus. Innerhalb kürzester Zeit waren rund 70 Feuerwehrmänner mit 20 Wagen vor Ort, zudem wurden Messwagen der Mannheimer Feuerwehr und aus dem Rhein-Neckar-Kreis angefordert. Mittlerweile gibt es Kritik an der späten Warnung der Bevölkerung durch die App "Nina.

Hintergrund

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Die Chemischen Werke Kluthe sind ein familiengeführtes Unternehmen, das weltweit tätig ist: 1950 gründeten Maria und Wilhelm Kluthe - er stammte aus dem westfälischen Herne - eine Firma in einer Altstadtwohnung, die vor allem einen

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Hintergrund

Die Chemischen Werke Kluthe sind ein familiengeführtes Unternehmen, das weltweit tätig ist: 1950 gründeten Maria und Wilhelm Kluthe - er stammte aus dem westfälischen Herne - eine Firma in einer Altstadtwohnung, die vor allem einen Fußbodenreiniger und flüssiges Bohnerwachs in einer Garage am Haus herstellte. Doch schon bald entwickelte sich die Firma sprunghaft und wurde zu einem breit aufgestellten Produzenten von allen Stoffe, mit denen eine Oberfläche behandelt werden kann, also Lacke, Lösungsmittel, Korrosionsschutz, Industriereiniger, aber auch Kühlschmierstoffe. Hauptkunden sind die Automobilindustrie, aber auch Maler und Lackierer. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen mit einem Umsatz von 250 Millionen Euro 700 Mitarbeiter an acht Produktionsstandorten, der Firmensitz ist weiterhin Heidelberg.

Das Unternehmen ist recht selten in den Schlagzeilen - bis auf eine Ausnahme: Im September 2002 wurde das "Walldorfer Terrorpärchen" verhaftet - angeblich, weil ein damals 25-jähriger Türke und seine Verlobte aus den USA einen Sprengstoffanschlag auf die Altstadt oder US-Einrichtungen planten. Der Mann, der bei Kluthe beschäftigt war, hatte vom Werksgelände 80 Kilo an Chemikalien gestohlen - aber wahrscheinlich eher, um damit harmlose Böller basteln zu können. In den späten achtziger Jahren lieferte sich die Firma zusammen mit Teroson einen erbitterten Rechtsstreit mit den Gemeinden Eppelheim und Plankstadt: Beide hatten bis 1966 Produktionsabfälle in eine Kiesgrube bei Eppelheim gekippt, später wurde dadurch das Grundwasser verschmutzt. Die Gemeinden klagten bis zur höchsten Instanz, verloren aber.

Als die expandierende Firma von ihrem alten Sitz im Gewerbegebiet Weststadt Anfang der siebziger Jahre nach Wieb᠆lingen-Nord umziehen wollte, kam es zu heftigen Protesten in der Bevölkerung, weil man Umweltbelastungen durch den Chemiebetrieb befürchtete. hö

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Schon früh war klar, dass es sich beim wichtigsten Stoff dieser Wolke um das Lösungsmittel Toluol handelte, das man für die Herstellung von Lacken braucht. Nach Angaben von Rematec-Geschäftsführer Wolfgang Weißmann war die Konzentration von Toluol "ganz gering". Dieser Stoff sei an sich nicht gefährlich, "man riecht ihn halt".

Zugleich konnte er auch nicht erklären, wie es zu dem Austritt gekommen ist: "Das ist völlig unerklärlich, wir wissen noch nicht einmal genau, was passiert ist". Etwas später berichtete Polizeisprecher Norbert Schätzle: "Nach derzeitigem Ermittlungsstand soll es kurz vor 6 Uhr zu einer ungewollten chemischen Reaktion von 3000 Litern eines Gemischs aus Chemierückständen gekommen sein. Dadurch soll sich ein Überdruckventil geöffnet haben, was in der Folge zum Austritt einer dichten Rauchwolke, begleitet von einem beißenden Geruch, führte."

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Die Situation, so sagt Rematec-Geschäftführer Weißmann, sei durch das Tiefdruckgebiet verschärft worden, da die Dampfwolke nicht aufsteigen und verwehen konnte. Der ausgebildete Chemieingenieur betonte gegenüber der RNZ, dass sein Werk strengen Sicherheitsauflagen unterliege und von den Behörden regelmäßig kontrolliert werde. Und nicht zuletzt habe man die Situation schnell in den Griff bekommen. Seines Wissens nach habe es in seiner Firma noch keinen Unfall dieser Art gegeben.

Vor Ort berichten Weißmann, aber auch der Einsatzleiter der Heidelberger Feuerwehr, René Olbert, wie gut die Alarm- und Rettungskette funktioniert habe. Olbert sagte bei einer improvisierten Pressekonferenz gegen 10 Uhr: "Für Menschen hat zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr bestanden, es gab lediglich eine Geruchsbelästigung. Auch Grenzwerte wurden nicht überschritten." Auch der leitende Notarzt Ralf Dietrich sagt gleich mehrfach: "Zu keinem Zeitpunkt ist es zu einer gesundheitsgefährdenden Belastung durch Gefahrstoffe gekommen." Allerdings berichtet Polizeisprecher Schätzle von fünf Leichtverletzten: Drei Polizisten waren auf der Autobahn durch die Wolke gefahren und klagten hinterher über Schwindelgefühle und Schleimhautreizungen. Später meldeten sich eine Feuerwehrfrau und eine Passantin mit ähnlichen Symptomen.

Es dauerte relativ lange, bis 7.30 Uhr, bis das Messfahrzeug der Mannheimer Feuerwehr erste Messungen über die Toluol-Konzentration machen konnte. Den Dampfaustritt hatten die Einsatzkräfte bereits gestoppt, die Wolke verzog sich allmählich. Die folgenden zwei Stunden ging es vor allem darum zu analysieren, welche Stoffe in welcher Konzentration in der Wolke enthalten waren - und schließlich wurde kurz vor 10 Uhr Entwarnung gegeben: Die Toluol-Konzentration war - zumindest zu diesem Zeitpunkt - nicht mehr allzu hoch: Gemessen wurden zehn Milliliter pro Kubikmeter (ml/m3), der Grenzwert liegt bei 50 ml/m3. Allerdings ist bisher ungeklärt, wie stark die Belastung zu Beginn des Unfalls gewesen ist. Die weiteren Ermittlungen hat die Kriminalpolizei übernommen.

Gegen 10 Uhr legte sich die Aufregung wieder: Die A5 wurde wieder geöffnet - seit 6 Uhr quälten sich die Lastwagen zwischen den Ausfahrten Dossenheim und Schwetzingen durch die Stadt -, die Polizei hob ihre Sperrungen rund ums Werksgelände auf, und auch die Anwohner durften vor die Tür und wieder die Fenster aufmachen. Feuerwehr-Einsatzleiter Olbert sagt da fast erleichtert: "Das sah anfangs noch groß aus." Und auch in Wieblingen belebten sich wieder die Straßen, die zuvor noch wie ausgestorben waren.

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