Warum Rehkitz "Harry" riesiges Glück hatte
Kaum auf der Welt, schon vom streunenden Hund gepackt – Christine Schweter und Familie kümmern sich liebevoll ums Kitz

Von Tim Kegel
Sinsheim. "Harry" hat lustige Punkte im Fell, die süßsten schwarzen Kulleraugen, ein Köpflein kaum größer als eine Kinderfaust, riesige Ohren und schlaksige Tierbaby-Beine. Und verdammtes Glück - das hatte "Harry" vor allem. Es war am Pfingstsamstag.
Peter und Ute Keil und Tochter Christine wollten gerade den Mittag rund ums Haus, um den Garten und die Couch verbringen. Die royale Hochzeit von Prinz Harry, daher der Name, und seiner Meghan - da schaut man schon mal zu. Plötzlich ruft die Polizei an: Es gab ein echtes Problem.
Spaziergänger hätten ein grausiges Erlebnis gehabt, hieß es da: Ihnen sei in der Weite zwischen Sinsheim und Hoffenheim ein Hund begegnet - "hell und groß" - der etwas Dunkles im Maul hatte, mit sich zerrte und fallen ließ: ein frisch gesetztes Rehkitz. Ob es verletzt war oder nicht, das wusste gerade niemand.
Seltsamer Weise verschwand der herrenlose Hund offenbar blitzartig auf Nimmerwiedersehen, ließ aber jenes Bündel liegen, das inzwischen "Harry" heißt, wie der Prinz, fürstlich behandelt wird und prächtig gedeiht. Die Sinsheimer Tierklinik, wohin man das damals kaum ein Kilogramm leichte Böcklein brachte, nahm über die Polizei Kontakt zu den Jagdpächtern auf: Und Peter Keil und vor allem Tochter Christine Schweter - sie ist nicht nur Waidfrau, sondern auch Tierarzthelferin - nahmen als erste den Hörer ab.

Das Böcklein entwickelt sich prächtig. Foto: Tim Kegel
Also gut. Nun waren sie "dabei". Beide erinnern sich: "Selbstverständlich, machen wir"; doch binnen von Minuten war jetzt "ein Kind im Haus": Das Böcklein war offenbar nur wenige Stunden alt, hatte noch Reste der Plazenta im Fell, "eine lange Nabelschnur"; es schied das auch von menschlichen Neugeborenen bekannte "Kindspech" aus. Christines Fachwissen "und das Internet" waren jetzt ein echter Segen: Passende Milch musste her, "und zwar schnell", außerdem ein geschütztes Versteck und viel mütterliche Zuwendung. Dummerweise war es aber gerade Samstagmittag. Drei Stunden lang wurde herumtelefoniert.
Frisch gesetzte Rehkitze - zum Glück war Christine und Peter das bekannt - brauchen zu Beginn alle zwei Stunden Muttermilch, später etwa alle drei Stunden. Als Wiederkäuer mit vier Mägen können sie bei falscher Ernährung sterben, etwa bei Blähungen "oder durch eine Lungenentzündung, wenn sie sich verschlucken". Bei Züchtern in Nußloch wird seither Ziegenmilch besorgt, zunächst so genannte Biestmilch junger Muttertiere. Jeder, der ahnungslos und gutmeinend ein Kitz in Obhut nehmen würde, der würde an diesen Hürden wahrscheinlich scheitern. "Es ist extrem anstrengend", sagt Christine Schweter.
Vier Mal in der Nacht stellt sie sich zur Zeit für "Harry" den Wecker, erhitzt Milch auf zwischen 38,5 und 39,5 Grad, wartet dann auch noch ein Weilchen im Schlafanzug, "falls er keinen Hunger hat". Säugt er am Fläschlein, streichelt sie das Bäuchlein, damit das Rehlein nachher sein Häuflein macht. Am Tag gilt der selbe Rhythmus.
Und für ausreichend Nährstoffe sucht Christina nach Maulwurfshügeln: "Maulwurfserde", so zeige es die Erfahrung, sei "immer die beste mit den meisten Mineralien" - und genau das brauche ein Rehkind. Es nehme automatisch die reichhaltigste Nahrung zu sich, haben sie beobachtet. "Unglaublich", findet Peter Keil, "woher es das weiß, ohne dass seine Mutter es ihm zeigt."

Das Böcklein entwickelt sich prächtig. Foto: Tim Kegel
So schafften es die Dührener, dass "Harry" inzwischen genau passende 2233 Gramm wiegt, pro Woche nimmt er 40 Prozent seines Gewichts zu. Gewogen werden muss er "täglich zur selben Zeit". Das alles passiert in einem Gästezimmer, das fürs Reh hergerichtet wurde und in dem sich normalerweise Jagdkumpane und Freunde der Familie ablegen dürfen. Böcklein "Harry" profitiert sonnenklar von einem lockeren Haus mit offenen Menschen, das sich voll und ganz auf den Gast aus der Wildbahn einstellt. Christine arbeitet in Peters Stuckateurbetrieb mit - "bei einem regulären Job von 8 bis 17 Uhr könntest Du das vergessen", sagt sie. "Über dem Berg ist er noch nicht", gibt sie zu bedenken.
Peter Keil ist erfahrener Jäger, machte seine Jägerprüfung 1979. Tochter Christine folgte im Jahr 2013. Viel Freude und Leiden haben sie erlebt mit heimischen Wildtieren, zogen Igel auf, brachten einen verletzten Bussard zur Auffangstation. Mit ihrer Geschichte wollen sie warnen: Ein frei im Feld laufender Hund, ein falscher Fußtritt zur falschen Zeit am falschen Fleck - regelmäßig sterben Rehkitze durch Unachtsamkeiten. Auch verwaist wirkende Tiere "zu retten" gehe in der Regel nach hinten los: Auch "Harry" wäre stundenlanges Alleinsein von Beginn an gewohnt gewesen, hätte dann auf Mutter und Futter im Grasversteck gewartet.
Gemeinsam mit "Harry" geht es in die Wiesen hinterm Haus. Keine zwei Meter entfernt im hohen Gras, wird das Kitz-Knäuel fürs menschliche Auge unsichtbar. Wenn er auswächst und einmal hier bleiben will, räumen ihm Peter und Christine "lebenslanges Futter und Schonzeit" ein. "Er darf immer bleiben."