Warum Stuttgart aufmerksam nach Hamburg schaut
In Baden-Württemberg soll über einen "Schulfrieden" beraten werden. An der Elbe gibt es einen solchen bereits seit 2010.

Von Axel Habermehl, RNZ Stuttgart
Stuttgart. In der traditionell heftig umkämpften baden-württembergischen Bildungspolitik stehen Friedensverhandlungen bevor. Ein Sprecher von Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) bestätigte, dass demnächst Gespräche zwischen Regierung, Koalition und Opposition stattfinden sollen um auszuloten, ob ein "Schulfrieden", ein parteiübergreifender und längerfristig gültiger Konsens zur Bildungspolitik, vereinbart werden könnte.
Die Idee gab es in den vergangenen zehn Jahren immer wieder. Schon 2014 schlug die FDP einen "Schulfrieden" vor. "Die Idee war, dass nicht bei jeder Landtagswahl die Verantwortlichen in den Schulen zittern müssen, ob im Fall eines Regierungswechsels wieder alle Strukturen infrage gestellt werden", erinnert sich Timm Kern, bildungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion. Auf Einladung des damaligen SPD-Landeschefs Nils Schmid gab es dann auch Verhandlungen zwischen Grünen, SPD, CDU und FDP, die aber an einer Absage der damals oppositionellen CDU scheiterten. 2016 regte die FDP eine Wiederaufnahme an. Doch im Landtagswahljahr wurde wieder nichts daraus. Dann war es länger ruhig.

Die seit 2016 regierende grün-schwarze Koalition, deren bildungspolitische Standpunkte und Ziele sich nahezu unvereinbar unterscheiden, verabredete, keine Debatten über Schulstrukturen zu führen, sondern ausschließlich über Unterrichtsqualität. Doch unter dem immer höheren Druck von G9-Befürwortern gab Grün-Schwarz diesen Grundsatz Ende 2023 auf und gab bekannt, Pläne für einen Umbau des Gymnasiums zu erarbeiten. Sofort gab es kein Halten mehr. CDU-Fraktions- und Landeschef Manuel Hagel forderte "ein ganzheitliches Update" für das Bildungssystem. Der Grünen-Landesvorsitzende Pascal Haggenmüller befand, eine G9-Reform eröffne "die Möglichkeit, Schule neu zu denken und zu gestalten".
Und plötzlich war auch die Idee des "Schulfriedens" wieder da. Kurz vor Weihnachten brachte der nach einer internen Ämterrochade frischgebackene bildungspolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Andreas Sturm, den Vorschlag bei einer schulpolitischen Debatte im Landtag ein. Er halte es für sinnvoll, "in diesem Haus einen breiten Konsens zu bilden, der über diese Legislaturperiode hinaus Bestand hat", sagte Sturm.
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Annäherungssignale kamen aus SPD, FDP und dem Kultusministerium. Was daraus wird, ist offen. Klar ist dagegen das Vorbild: Hamburg. Der Stadtstaat, der vor einigen Jahren bei Schülervergleichstests noch am Ende der Ländertabelle lag, hat massiv aufgeholt, betreibt Experten zufolge bundesweit wohl mit die effektivste Bildungspolitik.
Grundlage dafür ist eine 2010 von Grünen, CDU, SPD und FDP geschlossene "Rahmenvereinbarung", die Veränderungen der Schulstruktur für zehn Jahre ausschloss. Auslöser war ein erbitterter Streit um letztlich gescheiterte Pläne zur Verlängerung der Grundschule auf sechs Jahre. Kern des "Friedensvertrags": Auch im Falle von Regierungswechseln solle sich der Senat in Schulfragen ausschließlich um Inhalte und Qualitätsverbesserung kümmern, die damals neu aufgesetzten Strukturen – vierjährige Grundschule und zweigliedriges weiterführendes System – aber nicht antasten.
"Sehr viele wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass der größte Erfolg zur Verbesserung der Bildung darin besteht, den Unterricht zu verbessern, ihn anspruchsvoller, pädagogisch klüger und auch mit moderneren Methoden zu gestalten. Dieses wichtige Ziel wird häufig überlagert von vielen anderen politischen Fragen, die für die Bildung weniger oder kaum Erfolg zeigen. Das gilt insbesondere für Fragen nach der Schulstruktur", sagt Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD). Hamburg habe deshalb 2010 im weiterführenden Bereich die Struktur aus G8-Gymnasien und sogenannten Stadtteilschulen, integrierten Gesamtschulen, an denen man bis zum G9-Abitur alle Abschlüsse ablegen kann, auf den Weg gebracht. Dann habe man sich versprochen, die Schulstruktur nicht zu ändern.
"Das hat die Zeit, die Konzentration und Kraft freigesetzt, um sich danach besser auf den Unterricht konzentrieren zu können", erinnert sich Rabe, der seit 2011 Schulsenator ist. Während seiner Amtszeit agierten in Stuttgart fünf verschiedene Kultusministerinnen und -minister.
Taugt das Hamburger Modell auch für Baden-Württemberg? An eine überparteiliche Einigung, um die wie in kaum einem Bundesland zerfaserte Schulstruktur im Sekundarbereich glattzuziehen, glaubt kaum ein Insider. Aber vielleicht, heißt es hinter den Kulissen, bekomme man ja bei der geplanten G9-Reform etwas Lagerübergreifendes hin.
Auch Michael Wehner von der Landeszentrale für politische Bildung sagt: "Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass man zu einer weitgehenden Einigung kommt. Die Positionen sind doch sehr unterschiedlich." Er finde es außerdem demokratietheoretisch schwierig, ausgerechnet das wichtigste Thema in landespolitischer Verantwortung aus aktuellen Auseinandersetzungen auszuklammern, sagt der Politologe. Schließlich sei Parteienwettstreit konstitutiv für das politische System. "Die Wähler wollen unterscheidbare Positionen." Zwar sei es misslich, wenn ausgerechnet Schulen zum "Experimentier- und Schlachtfeld für Wahlkämpfe" werden. Jedoch: "Ich fände es schade, wenn jetzt Konsens-Soße über dieses zentrale landespolitische Feld gegossen wird."
In Hamburg rüsten sich die Fraktionen übrigens gerade für das Auslaufen des Friedensvertrags. Der Pakt von 2010 wurde 2020 um fünf Jahre verlängert, dem Vernehmen nach ist eine weitere Fortschreibung unwahrscheinlich. 2025 wird in Hamburg gewählt, im Wahlkampf wollen die Parteien auch über Bildungspolitik streiten. Ein Thema: die Rückkehr zu G9 an Gymnasien, ein Vorhaben, für das eine Bürgerinitiative gerade erst zehntausend Unterschriften gesammelt hat.