Sinsheim

Proteste trotz Entgegenkommen der Politik

Trotz Signalen des Entgegenkommens seitens der Politik wird es ab kommendem Montag große Bauerndemos in der Region geben.

05.01.2024 UPDATE: 05.01.2024 06:00 Uhr 5 Minuten, 42 Sekunden
Rund 520 Fahrzeuge hatten sich am 21. Dezember zur Sternfahrt in Sinsheim getroffen. Foto: Christian Beck

Von Tim Kegel

Sinsheim. "Zu viel Druck im Kessel", hieß es aus Organisatoren-Kreisen der Bauernproteste in der Region am Donnerstagnachmittag. Zwar hatte die Ampel-Regierung kurz zuvor angekündigt, geplante Kürzungen der Subventionen von Agrardiesel "nicht in einem Schritt" vorzunehmen und auch an der Steuerbefreiung landwirtschaftlicher Fahrzeuge vorerst nicht zu rütteln. Nach jüngstem Stand ändert das jedoch nichts daran, dass die bundesweit geplante Protestwoche der Bauern am 8. Januar auch in Sinsheim Fahrt aufnimmt.

Was genau bevorsteht, konnten am Donnerstag nicht einmal die regionalen Organisationsteams abschätzen. Einen Eindruck geben die Ereignisse vom 21. Dezember: Dominik Ernstberger, Landwirt und Lohnunternehmer aus Sinsheim-Weiler, hat damals mitorganisiert. Nach Bauernpräsident Ruckwieds flammender Rede in Berlin sei die Idee "spontan im Kollegenkreis" am Sonntagabend entstanden, für den folgenden Donnerstagnachmittag geplant und "mit 100 bis 200 Maschinen gerechnet" worden. Die Genehmigung kam dienstags; donnerstags waren 520 Schlepper vor Ort.

Was seither passiert ist, hat auch Ernstberger und seine Kollegen beeindruckt; er zeigt sein Handy: Rasend schnell hatten WhatsApp-Gruppen die Maximalgröße erreicht, inzwischen gibt es allein im Kraichgau drei Stück mit insgesamt 2700 Mitgliedern. Zwar hält Ernstberger sich mit Details bedeckt – es werde wohl eine ähnliche Zahl an Teilnehmern werden. Realistischer schien zuletzt allerdings, dass am Montag durchaus 1000 Maschinen auf der Straße sein werden, die teilweise bis aus dem Odenwald nach Sinsheim und auf zwei Routen weiter Richtung Heidelberg fahren wollen. Auch im Kreis Karlsruhe formiert sich Protest ähnlicher Größenordnung, ebenso im Heilbronner Land, etwa bei Fürfeld, dort soll bereits ab dem Montagmorgen demonstriert werden. "Das geht weiter bis Ulm", sagt Ernstberger, der gut vernetzt ist unter den einzelnen Gruppen im Süden. Bekannt ist auch, dass sich Fuhr- und Erdbauunternehmen den Protesten anschließen wollen, außerdem Handwerksbetriebe. Die Stadt Heilbronn hat am Donnerstagabend vor "erheblichen Verkehrsbeeinträchtigungen im Stadt- und Landkreis Heilbronn" gewarnt.

"Das mit dem Diesel, die Steuer – das ist alles nur on top", sagt Ernstberger. Es gehe "um viel mehr" als die beiden Punkte, bekräftigt auch Achim Mattern, Vizevorsitzender des Kreisbauernverbands und Vollerwerbslandwirt aus Helmstadt-Bargen. Die Bauern in Deutschland erfüllten seit Jahrzehnten "höchste Standards", müssten dabei aber mit Produkten am Weltmarkt konkurrieren, die unter gänzlich verschiedenen Bedingungen produziert werden würden: Weizen aus der Ukraine, Spargel aus Marokko, Erdbeeren und Paprika aus Spanien. Umweltauflagen, zugelassene Pflanzenschutzmittel, Sozialauflagen und Lohnkosten ließen sich mit denen hierzulande nicht vergleichen. "Vieles ist berechtigt", sagt Mattern; die Bauern im Land seien so imstande, "die sichersten Lebensmittel" zu produzieren, zudem seien sie Deutschlands größte CO2-Speicher. Dass dieselben Standards allerdings bei der Einfuhr von Produkten "an der Grenze nichts gelten" würden, ist Mattern unverständlich. In vielen Ländern sei beispielsweise der Einsatz der umstrittenen Neonicotinoide zum Schutz vor Insekten noch Usus.

Einher gehe die Landwirtschaft hierzulande mit einem immensen Dokumentationsaufwand, "rund zehn bis 15 Prozent" seines Gesamtaufwands im Betrieb, schätzt Mattern: Als Beispiele nennt er eine erforderliche Nährstoffanalyse und eine Nährstoffbedarfsrechnung fürs sogenannte "zielgerechte Düngen"; oder die sogenannte Stoffstrombilanz – "eine Wissenschaft für sich" – in Form einer Bilanzierung der im Betrieb ein- und ausgehenden Nährstoffe, "quasi vom Weizen bis zur Gülle".

Einiges im Auge behalten müssten Bauern in ihrer täglichen Arbeit – allerdings könnten viele sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch besonders viele Augen auf den Berufsstand gerichtet sind. Das gehe weiter beim Bewirtschaften von Blühwiesen auf Stilllegungsflächen oder bei Mähwiesen, bei denen der Schutz überwinternder Larven beim Bereiten des Bodens bis hin zu behördlich genau festgelegten Stichtagen für die Aussaat und andere Arbeiten eine Rolle spielen, die oft nicht praktikabel seien: "Ist immer schwierig, wenn man der Natur Stichtage gibt", weiß auch Detlev Geyer, landwirtschaftlicher Berater aus Sinsheim-Weiler. Das gelte für konventionelle und biologisch-dynamische Erzeuger gleichermaßen, die alle bei den Protesten vertreten seien. Unterm Strich gehe es nämlich auch um etwas Grundsätzliches, ergänzt Mattern, wie die berufliche Entscheidungsfreiheit "von Leuten, die etwas drauf haben".

"Das sind Techniker, Meister, die haben das teils studiert", ergänzt Geyer. Nicht immer leicht sei es, Laien die komplexen Themen und Inhalte verständlich zu machen. Oft lägen Theorie und Praxis auch weit voneinander entfernt. Doch besonders in jüngster Zeit hätten viele Bauern das Gefühl, "dass gerade die Politik, die es eigentlich besser wissen müsste, den Bauern misstraut", sagt Geyer. Bestes Beispiel ist für Geyer der Schutz der Böden und das Thema Stickstoff – dabei sei doch der Boden "das wichtigste, was die Bauern haben".

Bei der ersten Demo am 21. Dezember war ein deutlicher Rückhalt unter der Bevölkerung zu spüren: Viele Menschen am Straßenrand signalisierten "Daumen hoch" und reagierten trotz längerer Staus relativ gelassen. Wichtig ist den Organisatoren, dass es auch diesmal gesittet abläuft, sagt Ernstberger, aber davon gehe er aus.

Unterstützer seien erwünscht, für Geyer sind das "grundsätzlich alle, die sich mit uns identifizieren" und deren Berufsstand auch auf die eigene Problematik aufmerksam machen wolle: "Was ist mit dem Bildungs- oder Gesundheitswesen?" Unterdessen heißt es aus Heilbronn, dass auch mit Bahnstreiks im Schienenverkehr gerechnet werden müsse.

Nach ihrem Ziel gefragt, sprechen sie von Entscheidungsfreiheit und einer Politik, die ihren Beruf stärker wertschätzt. Verscherzen wollen sie es sich mit der Bevölkerung nicht, sagen Ernstberger, Mattern und Geyer mehrfach: Ablaufen soll der Protest "ohne schwarze, rote, rechte oder linke Fahnen"; es brauche "keine Haudegen, keine Kundgebung", wichtiger sei "eine ruhige, ernsthafte Situation", wie es auch bei der ersten Demo gewesen sei, bei der es keinen einzigen Zwischenfall gegeben habe. Allein zehn Stern- und Demo-Fahrten plant der Landesbauernverband im ganzen Süden Deutschlands am 8. Januar; zahlreiche weitere Aktionen plant der Verein "Land schafft Verbindung" und nicht alles ist bekannt. Auch in den Folgetagen dürfte es weitergehen.


Wegen der angekündigten Demonstrationen hat sich die Autobahn GmbH Südwest entschieden, Verkehrsteilnehmende auf die damit verbundene Staugefahr hinzuweisen, teilt das Bundesunternehmen auf Anfrage mit. Foto: PR-Video

Am "Protestmontag" der Bauern drohen Staus auf den Straßen

Metropolregion. (sake) Für den kommenden Montag, 8. Januar, haben sich mehrere Zusammenschlüsse von Landwirten für Traktor-Demonstrationen angekündigt.

Das Polizeipräsidium Mannheim teilte mit, dass die Demonstrationen als sogenannte Sternfahrten mittels Traktoren stattfinden sollen. Dabei kann es in Heidelberg, Mannheim, Karlsruhe und dem Rhein-Neckar-Kreis sowie dem Landkreis Karlsruhe und dem Landkreis Heilbronn zu einzelnen, lokalen Versammlungen in Form von Kundgebungen, Aufzügen und Mahnwachen sowie durch Kolonnenfahrten kommen.

Das Polizeipräsidium Heilbronn geht davon aus, dass es rund um die Auffahrten der Autobahnen A6, A8 und A81, sowie im Stadt- und Landkreis Heilbronn im Berufsverkehr zu erheblichen Staus kommen wird. Auch auf zahlreichen anderen Strecken im Hohenlohekreis, dem Main-Tauber-Kreis sowie dem Neckar-Odenwald-Kreis seien größere Behinderungen zu erwarten.

> Bereits in den frühen Morgenstunden kommt es zu einer Fahrt mehrerer Traktoren im Stadtgebiet Heidelberg.

> Weiterhin ist eine Traktorenfahrt im Bereich Hockenheim angemeldet, die danach in Richtung Bruchsal fahren soll.

> Beginnend am Nachmittag werden sich Versammlungsteilnehmerinnen- und teilnehmer mit ihren Fahrzeugen durch das Stadtgebiet Mannheim bewegen. In den Abendstunden soll nach derzeitigem Stand ein Mahnfeuer neben der B44 zwischen Mannheim-Sandhofen und Lampertheim entzündet werden.

> Zwischen 12 bis 20 Uhr ist eine Sternfahrt mit mehreren hundert Traktoren zwischen Sinsheim und Heidelberg angemeldet.

Die zuständigen Polizeipräsidien appellieren ausdrücklich an alle Beteiligten, während der gesamten Zeit die nötigen Rettungswege für Notarzt-, Rettungsdienst- und Einsatzfahrzeuge freizuhalten.


Worum geht es bei den Protesten?

Heidelberg. (sake) In erster Linie richtet sich der Protest gegen die Streichung von Steuervergünstigungen für Agrarunternehmen. Betroffen davon sind vor allem kleine und mittelgroße Landwirtschaftsbetriebe.

Es gibt aber auch Kritik gegenüber der Aktion. So heißt es, dass die Bauern eigentlich ganz gut verdienen würden. Laut Recherchen der Tagesschau konnten viele Agrarunternehmen in den letzten beiden Wirtschaftsjahren sogar eine Gewinnsteigerung von 40 bis 45 Prozent erwirtschaften. Würde die Regierung die Subventionen von Agrardiesel und Kfz-Steuer streichen, könnte das zu einer jährlichen Belastung von 4000 bis 5000 Euro pro Betrieb im Durchschnitt führen.

Was sollte gestrichen werden?

Die Regierung sah vor, Vergünstigungen beim Agrardiesel und auch die Kfz-Steuerbefreiung für Landwirtschaftsfahrzeuge zu streichen. Das sollte dem Etat 2024 der Ampel Einsparungen von bis zu 920 Millionen Euro erbringen. 

Laut Umweltbundesamt fallen diese bisherigen Vergünstigungen ebenso unter klimaschädliche Subventionen, wie das Dienstwagenprivileg und die Pendlerpauschaule.

Die Regierung "rudert zurück"

Am gestrigen Donnerstag, 4. Januar, hat die Regierung reagiert und kündigte an, einige Kürzungen zurückzunehmen. So soll auf die Abschaffung der Begünstigung bei der Kraftfahrzeugsteuer für Forst- und Landwirtschaft verzichtet werden. Die Abschaffung der Steuerbegünstigung beim Agrardiesel soll wiederum nicht auf einen Schlag, sondern schrittweise vollzogen werden.

Die Forderung der Bauern

Die Nachbesserungen sind laut Bauernverband unzureichend und die "Steuererhöhungspläne müssen zurückgenommen werden". Daher werde an der Protestwoche festgehalten.

"Rechte" Instrumentalisierung auf Social Media

Unter dem Hashtag #Generalstreik solidarisieren sich auch rechtsextreme Gruppierungen mit den Bauern. Dabei wurden teilweise Falschmeldungen und Falschaussagen sowie Aufrufe zum Putsch veröffentlicht. Der Bauernverband distanzierte sich daraufhin von den Urhebern und bezeichnete diese als "Schwachköpfe mit Umsturzphantasien".

4. Januar: Was war da bei Robert Habeck los?

Am Donnerstag, 4. Januar, waren Bauern mit Traktoren zum Fährhafen Schlüttsiel gekommen. Auf einer Fähre befand sich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Laut Polizei waren rund 100 Demonstranten im Anleger und wollten die Fähre stürmen. Es kam zu Auseinandersetzungen und dem Einsatz von Pfefferspray.

Politiker mehrerer Parteien bezeichneten die Aktion als Gewalt und Nötigung  Die Blockade wurde auch vom Bauernverband verurteilt und als "No-Go" bezeichnet.

Update: Freitag, 5. Januar 2024, 15.20 Uhr

Dieser Artikel wurde geschrieben von:
(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.