Von der Fähre in den Abschiebeknast

Neckarhäuser Fährmann nach 24 Jahren nach Algerien abgeschoben

Hakim Aggoun musste nach 24 Jahren in Deutschland ausreisen. Das Bündnis für Flüchtlingshilfe setzt sich für seine Rückkehr ein.

23.03.2023 UPDATE: 23.03.2023 06:00 Uhr 6 Minuten, 18 Sekunden
Im März 2022 begann Hakim Aggoun eine Ausbildung zum Fährmann bei der Gemeinde Edingen-Neckarhausen. Ein knappes Jahr später wurde er nach Algerien abgeschoben. Foto: RNZ

Von Max Rieser

Edingen-Neckarhausen. Als es am Morgen des 12. Januar um 6 Uhr bei Hakim Nourredine Aggoun klingelte, zog er sich gerade an, um seine Schicht auf der Neckarhäuser Fähre anzutreten. Doch seiner Arbeit konnte er weder an diesem noch an den darauffolgenden Tagen nachgehen, denn es war die Polizei, die läutete, die ihn abholte, in ein Abschiebegefängnis und dann in ein Flugzeug nach Algerien steckte.

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Nach 24 Jahren in Deutschland ist Aggoun jetzt bei seiner Schwester in Aïn M’lila, einer Stadt, die rund 150 Kilometer vom Mittelmeer entfernt ist: "Hier ist es wie vor 100 Jahren, und ich kenne niemanden außer meiner Schwester. Ich finde mich überhaupt nicht mehr zurecht. Meistens verlasse ich das Haus gar nicht", berichtet er der RNZ am Telefon in fast fehlerfreiem Deutsch.

Sein 21-jähriger Sohn Jasin wohnt weiterhin in Deutschland, in Neckarhausen, und macht gerade eine Ausbildung zum Industriemechaniker. Für ihn war es ebenfalls ein Schock, wie er sagt: "Man rechnet mit so etwas nicht." Und auch Aggoun selbst hatte nicht damit gerechnet, obwohl es nicht der erste Versuch der Behörden war, ihn des Landes zu verweisen.

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Die Gründe für die Abschiebung teilte das Regierungspräsidium auf RNZ-Anfrage mit: "Da der Betreffende im Bundesgebiet bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, unter anderem wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls, gefährlicher Körperverletzung, vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit vorsätzlicher unerlaubter Veräußerung von Betäubungsmitteln und Sachbeschädigung, bestand keine aufenthaltsrechtliche Bleibeperspektive. Da der Betreffende die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise nicht genutzt hat, wurden aufenthaltsbeendende Maßnahmen eingeleitet und der Betreffende am 18. Januar 2023 abgeschoben."

Die Anschuldigungen wiegen schwer und klingen nach nachvollziehbaren Gründen für eine Ausweisung. Hört man sich allerdings in der Gemeinde um und an, was Aggoun selbst dazu sagt, ergibt sich ein etwas anderes Bild.

1995 arbeitete Aggoun als Hotelrezeptionist in der Küstenstadt Annaba. Hier lernte er eine deutsche Touristin kennen, ein Urlaubsflirt begann: "Wir waren sehr verliebt", erinnert sich Aggoun. Über drei Jahre führten sie eine Fernbeziehung. Um seine Geliebte zu überraschen, reiste er nach Krefeld, um sie zu besuchen. Vor Ort stellte sich heraus: Aggoun war nur ihre Affäre, "die Frau war verheiratet", erzählt er. Völlig desillusioniert kehrte er zurück in seine Heimat.

Hier wollte er aber nicht bleiben. Es herrschte Bürgerkrieg und die "Islamisten mochten die Leute in den Hotels nicht, weil es dort Alkohol gab", berichtet er. Schikanen seien an der Tagesordnung gewesen.

Er sei nicht religiös, was ihm ebenfalls keine Pluspunkte eingebracht habe. Außerdem setzte er Hoffnungen in Deutschland, nachdem er in Krefeld zu Besuch gewesen war: "Ich wollte ein friedliches Leben finden und als freier Mensch leben", sagt er.

Also packte er seine Koffer, zerstörte seinen Pass und brach die Zelte ab – für immer. Im August 1999 stellte er seinen ersten Asylantrag, der abgelehnt wurde. Der Aufforderung der Behörden, das Land innerhalb von drei Monaten zu verlassen, wollte er nicht nachkommen. Bei Landsleuten, die in Heidelberg lebten, kam er unter und begann, in einem Restaurant zu arbeiten.

Einer seiner Kollegen zeigte ihn bei der Polizei an, was zu einer neunmonatigen Abschiebehaft in Mannheim führte. Wieder sollte er selbstständig ausreisen, wieder tauchte er ab und lernte die Mutter seines Sohnes kennen, der 2002 geboren wurde. Er stellte weiterhin Asylanträge, die immer wieder abgelehnt wurden.

Aber das Katz-und-Maus-Spiel mit den Behörden war noch nicht vorbei. 2005 bekam er Besuch von der Kriminalpolizei, diesmal wurde er sogar einem Richter vorgeführt. Als dieser hörte, dass er einen kleinen Sohn hat, habe er gesagt: "Was machen Sie hier? Sie sind frei." In diesem Zuge erhielt er eine erste Duldung, die für ein Jahr gültig war.

Ein Problem war, dass das algerische Konsulat in Bonn ihm keinen Pass ausstellen wollte, den er für einen dauerhaften Aufenthaltsantrag gebraucht hätte: "Die haben gesagt, ich muss ihn in Algerien beantragen, aber dort wäre ich wahrscheinlich eingesperrt worden." Von da an bekam er eine zeitlich begrenzte Aufenthaltserlaubnis, die er immer wieder verlängern musste.

Er jobbte in Restaurants und "konnte davon gut leben", berichtet er. Nach einer Schicht in einem Restaurant, Aggoun lebte damals in Seckenheim, sei er nach Hause gekommen und habe im Treppenhaus bemerkt, dass das Glas der Eingangstür von der Wohnung unter ihm zerschlagen war. Er sei hingegangen, um zu schauen, was passiert war.

In diesem Moment sei das Paar heimgekommen, das dort wohnte und mit dem Aggoun bekannt war: "Sie haben mich angeschrien und gesagt, ich wäre eingebrochen. Dann haben sie die Polizei geholt." Er habe erklärt, dass er kein Einbrecher sei, aber man habe ihm gesagt, er könne gestehen und 700 Euro Strafe bezahlen oder einen Prozess riskieren. Er zahlte die Strafe und ging für einen längeren Aufenthalt nach Frankreich, wo er etwas Kurioses erlebte.

Der Bürgermeister von Cannes, David Lisnard, überreichte Aggoun eine Urkunde für seinen Einsatz nach einer Überschwemmung. Foto: RNZ

Als es in Cannes 2015 schwere Überschwemmungen gab, war er zufällig zur Stelle, als ein Ehepaar zu ertrinken drohte. Er rettete die beiden aus den Fluten und erhielt eine Ehrenurkunde des französischen Staates.

Zurück in Deutschland gab es für ihn wieder nur eine Duldung, er musste in die Unterkunft "Am Nussbaum" einziehen, was für ihn ein herber Schlag gewesen sei: "Ich wurde wieder zum Flüchtling gemacht, obwohl ich schon lange in Deutschland gewohnt und immer gearbeitet habe." Probleme seien an diesem Ort vorprogrammiert, sagt er: "Dort ist es einfach schrecklich."

Immer wieder sei es zu Streitereien mit anderen Bewohnern gekommen, zweimal sogar zu Handgreiflichkeiten, was ihm die Anzeige der Körperverletzung eingebracht habe. Der Vorwurf der Sachbeschädigung ergab sich aus Aggouns Hobby, dem Zeichnen. "Ich habe immer gemalt und meine Bilder verschenkt." Sogar den ehemaligen Bürgermeister Simon Michler zeichnete er und schenkte ihm das Bild, als dieser die Gemeinde 2022 verließ.

Einmal malte er allerdings eine Wand in der Sammelunterkunft an, wieder gab es eine Anzeige. Sein Laster war aber vor allem Cannabiskonsum, der ihn mehrmals in Konflikt mit dem Gesetz brachte. Verkauft habe er es allerdings nicht: "Ich habe mal jemandem etwas abgegeben und der wurde erwischt und hat dann gesagt, dass es von mir war."

Aggouns Leidenschaft ist das Zeichnen. Bilder von Tieren, aber vor allem Porträts von Menschen haben es ihm angetan. Als Ex-Bürgermeister Simon Michler die Gemeinde verließ, schenkte Aggoun ihm eine Zeichnung mit seinem Konterfei. Fotos: RNZ

Dennoch hatte er sich eingelebt in Edingen-Neckarhausen. Gleich in mehreren Schulen war er als Hausmeister tätig, kümmerte sich dort um die Gärten, reparierte Möbel oder Spielgeräte.

Die Arbeit auf dem Neckar begann er im März 2022, die Gemeinde hatte ihm einen Ausbildungsplatz als Fährmann angeboten "darüber habe ich mich wahnsinnig gefreut", sagt er. Er war maßgeblich daran beteiligt, den Gemeinschaftsgarten in der Flüchtlingsunterkunft "Am Nussbaum" aufzubauen, und bewirtschaftete ihn als einziger konstant.

Außerdem verteilte er das angebaute Obst und Gemüse in der Doppelgemeinde und an die Edinger Tafel. Er half älteren Mitbürgern bei der Gartenarbeit oder beim Einkaufen, was für diese eine große Hilfe gewesen sei. "Das ist jetzt auch traurig für mich, weil ich niemandem Bescheid geben konnte. Ich hoffe, dass die Leute nicht denken, dass ich einfach abgehauen bin und nicht mehr helfen wollte."

Für seinen Sohn war die Abschiebung ein Schock. Er findet, dass es vor allem der Charakter seines Vaters sei, der für ihn sprechet: "Er ist ein sehr hilfsbereiter Mensch, und auch wenn ich bei meiner Mutter aufgewachsen bin, war er immer für mich da, wenn ich ihn gebraucht habe." Das Verhältnis zu seiner Ex-Partnerin sei ebenfalls freundschaftlich, so Aggoun.

Der Integrationsmanager der Gemeinde, Wiland Scheib, sagt auf RNZ-Anfrage über Aggoun, dass er durch seine Festanstellung und seine guten Deutschkenntnisse seine Hilfe zwar nicht gebraucht habe, dass er von ihm allerdings den Eindruck hatte, er sei jemand, "der sein Leben im Griff hat".

Auch das Bündnis für Flüchtlingshilfe, das sich für Aggouns Rückkehr einsetzen will, sei "völlig überrascht" von der Abschiebung gewesen, wie dessen Sprecher und Bürgermeisterstellvertreter Dietrich Herold erklärt. "Da haben sie wirklich den Falschen erwischt."

Allein die Tatsache, dass er auf der Fähre arbeitete, sei ein Indiz dafür, dass er gut integriert sei: "Man stellt niemanden zur Personenbeförderung ein, der sich wirklich etwas hat zu Schulden kommen lassen", so Herold und weiter: "So dramatisch können die Gründe nicht sein."

Lutz Rohrmann, ebenfalls von den Flüchtlingshelfern, sagt: "Wir sind wirklich nicht die, die sagen: Es sollen einfach alle zu uns kommen. Wir sehen die Probleme, die es häufig gibt. Aber bei Herrn Aggoun ist definitiv etwas schiefgelaufen." Er habe sein Geld selbst verdient, sei unabhängig vom Sozialsystem, und seine Wohnung in der Anlage "Am Nussbaum" bezahlte er selbst.

Rohrmann vermutet ein Kalkül: "Abschiebungen finden bei denen statt, an die man am besten drankommt", glaubt er. Da Aggoun einen festen Wohnsitz hatte, sei er leicht zu ermitteln gewesen. Die Ausweisung findet Rohrmann "mehr als skandalös". Bei dem Fall müsse man sich fragen, "was eigentlich los ist".

Etwas enttäuscht ist Rohrmann von der Reaktion der Verwaltung: "Bei einem Gespräch signalisierte der Bürgermeister keine große Lust, uns zu helfen." Auf Anfrage der RNZ will sich das Rathaus nicht äußern, "um die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Personen zu schützen". Über die Abschiebung sei man als Arbeitgeber allerdings nicht im Vorfeld informiert worden. Das sei jedoch normal, berichtet wiederum das Regierungspräsidium. Ebenso sei es ein Zufall gewesen, dass der Tag der Abschiebung mit der Amtseinführung von Bürgermeister Florian König zusammenfiel, heißt es aus Karlsruhe.

An die Landtagsabgeordneten Sebastian Cuny (SPD) und Fadime Tuncer (Grüne) war zum Zeitpunkt des Erscheinens des Artikels noch niemand herangetreten. Dadurch hatten beide keine Kenntnis von dem Vorfall und konnten dementsprechend keine Stellungnahme abgeben.

Aber wie geht es jetzt weiter? "Ich würde sehr gern zurückkommen", sagt Aggoun. Sein Arbeitsvertrag mit der Gemeinde bestünde seines Wissens noch bis 12. Juni, und er wünsche sich, wieder dort arbeiten zu können. Das ist aber nicht ohne Weiteres möglich, so das Regierungspräsidium: "Es besteht aufgrund der Abschiebung ein zweijähriges Einreise- und Aufenthaltsverbot ab dem Tag der Abschiebung, sodass jedenfalls in diesem Zeitraum eine legale Wiedereinreise ausgeschlossen ist."

Herold und Rohrmann erklären: "Formaljuristisch ist es schwierig, aber wir wollen versuchen, das Einreiseverbot aufzuheben." Hier sei man auch über jede Hilfe dankbar, so die Ehrenamtlichen.

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