Von Jonas Labrenz und Denis Schnur
Heidelberg. Ein Junge sitzt den ganzen Tag am Computer, surft im Netz, investiert viel Zeit in Computerspiele. Als Toni den Bericht über diesen Jungen gemeinsam mit seiner Mutter im Fernsehen sieht, dreht sie sich zu ihm und fragt, ob das bei ihm nicht auch so sei. "Das war das erste Mal, dass sie mich darauf angesprochen hat", erinnert sich Toni, der eigentlich anders heißt. Der heute 13-Jährige hat damals - er war in der fünften Klasse - nicht eingesehen, was seine Mutter meint: "Ich habe das gar nicht realisiert. Mittlerweile verstehe ich es."
Snapchat. Foto: ThinkstockFünf Stunden täglich spielt Toni unter der Woche Computerspiele, am Wochenende sind es gar 13 bis 15 Stunden. "Ich wache auf, spiele, esse und gehe schlafen", erklärt er. Wenn er nicht spielt, fehle ihm einfach was. Vor allem aber fehlt ihm heute seine Konzentration: Der einst gute Schüler muss die siebte Klasse wiederholen: "Dabei hatte ich in der Grundschule nur Einser und Zweier - ich war so etwas wie ein Streber."
So wie dem 13-Jährigen geht es tausenden Jugendlichen in der Metropolregion: Für sie ist das Internet zur Sucht geworden. Sie können nicht mehr ohne Zocken, ohne Soziale Medien, ohne Online-Shopping oder Streaming. Prof. Katajun Lindenberg von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg (PH) hat mit ihrem Team in den letzten Jahren mehr als 5400 Schüler an 41 Schulen rund um Heidelberg getestet - das Fazit: Bei 6,1 Prozent aller Jugendlichen zwischen 11 und 21 Jahren ist der Internetkonsum kritisch.
YouTube. Foto: ThinkstockBei Toni wurde vor zwei Jahren die Diagnose Internetspielsucht gestellt. Seitdem spricht er einmal in der Woche mit Psychotherapeutin Lindenberg, um seine Sucht in den Griff zu bekommen. Bei vielen anderen wird das Phänomen, das seit diesem Jahr von der Weltgesundheitsorganisation als Krankheit anerkannt ist, nicht bemerkt. Wie andere Süchtige auch, verharmlosen Betroffene ihr Problem. Erwachsene werden in der Regel erst aktiv, wenn sie Job oder Beziehung verlieren.
FIFA. Foto: ThinkstockBei Jugendlichen braucht es oft Eltern oder Lehrer, die die Notbremse ziehen: "Die Problemeinsicht ist da schwierig", weiß Lindenberg. Die Schuld für negative Konsequenzen - etwa Streit mit den Eltern - sehen sie bei anderen. Bei Toni waren es eine Lehrerin und die Schulsozialarbeiterin, die 2016 den Kontakt zum Zentrum für Psychologische Psychotherapie der Universität Heidelberg hergestellt hatten, wo er auf Katajun Lindenberg traf.
Da hatte der junge Heidelberger schon zwei Jahre exzessiven Zockens hinter sich. Seit 2014 hat er einen eigenen Laptop, spielt seitdem Fortnite, Minecraft und Counterstrike im Internet gegen andere. Irgendwann wurden die Zeiten am Bildschirm immer länger, die Nächte immer kürzer. "Gewinnen macht Spaß", merkte Toni schnell, "und dann spielt man mehr, um noch mehr zu gewinnen."
Facebook. Foto: ThinkstockJugendliche finden in den Spielen oft Dinge, die ihnen im Alltag fehlen. Wer wenig Sozialkontakte, kaum Erfolgserlebnisse und viel Langeweile hat, neigt dazu, süchtig zu werden. Hier setzt das Programm "Protect" an, das Lindenberg und ihre Kolleginnen in den letzten Jahren an der PH mit Unterstützung der Dietmar Hopp Stiftung entwickelt haben.
Ein erster Test zeigt dabei zunächst, welche Schüler suchtgefährdet sind. Diese Risikogruppe - bislang waren es 480 Jugendliche an 40 Schulen - befasst sich dann in vier Unterrichtsmodulen mit den Themen "Langeweile", "Leistungsangst", "Unsicherheit im Umgang mit Gleichaltrigen" und "Gefühle". Es geht darum, den "individuellen Suchtteufelskreis" zu verstehen, so Lindenberg.
World of Warcraft. Foto: ThinkstockDie Jugendlichen sollen erkennen, warum das Spielen oder die Zeit im Netz für sie so belohnend ist, aber auch welche Tätigkeiten sie dadurch vermeiden und welche Probleme daraus folgen. Spielt ein Schüler etwa die halbe Nacht, ist er in der Schule müde. Kommt er dort nicht mit, kommt er schlecht gelaunt nach Hause und hat wiederum das Verlangen nach einem Erfolgserlebnis und fängt an zu zocken.
Bislang ist "Protect" eine Erfolgsgeschichte: "Wir konnten die Kernsymptome der Sucht innerhalb von zwölf Monaten reduzieren", so Lindenberg stolz. Deshalb soll das Programm nun auch in anderen Einrichtungen angewandt werden. Die Hopp-Stiftung finanziert die Veröffentlichung der Anleitung und der Unterlagen. "Es wäre total sinnvoll, wenn es an allen Schulen eingesetzt würde", meint Lindenberg.
Grand Theft Auto. Foto: ThinkstockBei schwierigen Fällen wie Toni hilft allerdings oft nur die Therapie. Hier lernen die Betroffenen Möglichkeiten kennen, wie sie mit schlechter Laune und Frust umgehen, ohne sich am Bildschirm abzulenken. Außerdem müssen sie oft erst wieder verstehen, dass es auch andere Aktivitäten gibt, die dem Selbstwertgefühl ähnlich gut tun: Freunde treffen, Sport treiben.
So ist es auch bei Toni. Er wird Lindenberg bald seltener sehen. Sie versuchen gemeinsam, die Termine zu reduzieren. Er solle sich einen Nebenjob suchen oder Sport treiben, rät sie ihm. "Aber ich habe im Moment eine Verletzung am Knie", erklärt Toni. Damit sei das kaum möglich. Er hat sich allerdings eines für die Zeit danach fest vorgenommen: "Ich will versuchen, bald wieder Fußball zu spielen."