2017 ist der weltweit stärkste Röntgenlaser XFEL in Hamburg in Betrieb gegangen. In einem 3,4 Kilometer langen unterirdischen Tunnel werden Elektronen beschleunigt, um extreme Röntgen-Lichtimpulse zu erzeugen. Das macht das Gerät auch zur schnellsten Hochgeschwindigkeitskamera für die Welt der kleinsten Teilchen. Foto: Hamburg Marketing
Von Martin Schäfer
Hamburg. Von Hamburgs neuester Rennbahn ist nicht viel zu sehen. Fast idyllisch windet sich das Flüsschen Düppenau darüber hinweg. Die renaturierte Flussaue ist eine Kompensationsmaßnahme für Europas Großforschungsprojekt XFEL, das zwanzig Meter unter der Erdoberfläche in einem 3,4 Kilometer langen Tunnel Elektronen beschleunigt, um extreme Röntgen-Lichtpulse zu erzeugen. Im Kürzel XFEL steht das "X" für Röntgenstrahlen und das FEL für "Freie Elektronen Laser". Es steht für ein Prinzip, aus beschleunigten Elektronen hochenergetische Laserpulse für die Grundlagenforschung zu erzeugen.
Die 3,4 Kilometer lange Rennbahn ragt dabei etwas aus Hamburg hinaus: Forscher im Deutschen Elektronen-Synchrotron (Desy) erzeugen die Elektronen, die dann unter Hamburger Stadtgebiet beschleunigt werden und dann unter dem Flüsschen Düppenau die Landesgrenze zu Schleswig-Holstein passieren. In einem unscheinbaren Industriegebiet befindet sich dann die große Experimentierhalle, der zweite Teil der Großforschungsanlage XFEL. Dort können Forschergruppen aus allen Ländern mit den erzeugten Röntgenstrahlen experimentieren.
Der Wissenschaftler Christian Bressler geht in einem schönen Beispiel für die Arbeitsweise des XFEL auf die Geschichte der Fotografie zurück. "Pferde traben und galoppieren eigentlich zu schnell für das menschliche Auge", sagt Bressler. Um das Jahr 1892 kam die Frage auf, ob ein Pferd bei schnellem Trab im Bewegungsablauf alle vier Hufe vom Boden hebt. Der US-amerikanische Fotopionier Eadweard Muybridge stellte zwölf Kameras auf und fotografierte mit einer Art Stolperdraht den Pferdetrab. Und tatsächlich, bei Belichtungszeiten von einer tausendstel Sekunde konnte er nachweisen, dass trabende Pferde in ihrer Trabsequenz für kurze Zeit auch mal alle vier Hufe vom Boden nehmen. Die erste Bilderfolge von Muybridge war damit gewissermaßen ein Vorläufer des Kinofilms.
Bressler und seine Kollegen wollen mit dem XFEL ganz Ähnliches: das Molekül-Kino. Die Dynamik und Reaktionen von Molekülen spielen sich allerdings auf einer anderen Zeitskala ab. Es sind Femtosekunden, also 0,000.000.000.000 001 Sekunden. "So etwas hat bisher noch keiner gesehen. Was passiert am Anfang einer chemischen Reaktion?", umschreibt Bressler eine Forschungsfrage. Es sind die grundlegenden Fragen der Chemie, der Katalyse und Materialforschung, die die Forscher am XFEL umtreiben.
Der Australier Adrian Mancuso möchte beispielsweise viel größere Moleküle aus der Biologie fotografieren - wobei fotografieren hier meint, die innere Struktur dieser Riesenmoleküle zu bestimmen. Normalerweise müssen Forscher Biomoleküle zu kleinen Kristallen formieren, um diese dann im Röntgenlicht zu durchleuchten und analysieren. Doch viele Biomoleküle lassen sich nicht in eine kristalline Form bringen.
Ein Forschungsvorhaben von Mancuso ist, bestimmte Proteine der Hülle des Influenzavirus zu analysieren. "Das hätte einen richtig schönen Anwendungscharakter unserer Grundlagenforschung", meint Mancuso. "Und der XFEL ist genau das richtige Tool, das zu tun." Der XFEL gilt derzeit als weltweit leistungsfähigstes Röntgen-Blitzlicht und schnellste Hochgeschwindigkeitskamera für die Nanowelt.
Das Vorgehen von Mancuso ist allerdings brachial: Mit einem Röntgenblitz bildet er zwar das Molekül ab, das wird aber gleichzeitig dadurch zerstört. Aus dem "Abblitzen" von vielen Einzelmolekülen können die Forscher dann ein Gesamtbild errechnen.
Die Idee zu sogenannten Freien Elektronen Laser (FEL) geht auf die 1970er Jahre zurück. Beschleunigte Elektronen strahlen Röntgenstrahlen ab. In kreisförmigen Anlagen, sogenannten Synchrotrons, nutzen das Materialforscher schon Jahrzehnte. Im FEL werden hingegen die geradlinig beschleunigten Elektronen auf eine Slalomstrecke geschickt. Dabei strahlen auch sie Licht aus. Dieses Licht holt vorauslaufende Elektronen ein und koppelt zurück: Die Elektronen ordnen sich und strahlen das Röntgenlicht verstärkt und im Gleichtakt ab. Das Ergebnis sind 27.000 Röntgenblitze pro Sekunde. Die Slalomstrecke ist dabei rund 210 Meter lang.
Rund 1,2 Milliarden Euro hat die Anlage gekostet, die 2017 in Betrieb ging. Das Gastgeberland Deutschland trägt 58 Prozent der Kosten, ein Dutzend weitere Staaten sind Partner. Die Betriebskosten für das Jahr 2018 sollen bei rund 118 Millionen Euro liegen. Gut angelegtes Geld? Helmut Dosch kommt auf gleich drei Punkte, wieso sich Grundlagenforschung auszahle. In den Vordergrund rückt er aber ein Beispiel, das mit seiner Forschungseinrichtung Desy in historischer Verbindung steht: das Elektron. Beim Desy werden Elektronen beschleunigt und ein Abfallprodukt dieser Beschleunigung, nämlich harte, energiereiche Röntgenstrahlung, für die Forschung genutzt. Nun, im Jahr 1897 entdeckte der Brite Joseph John Thomson das Elektron. "Ohne die Kenntnis von seiner Existenz und ohne das Detailverständnis von seinen Eigenschaften gäbe es heute keine Telekommunikation, keine Hochleistungsmaterialien, kurz: keinen Wohlstand", unterstreicht Dosch.
Zunächst sei jede Investition in Grundlagenforschung auch eine Investition in den Standort und die besten Hightech-Firmen. Zweitens verspreche die Grundlagenforschung Ergebnisse, auf die andere Forschung und Entwicklung gründen. Und drittens zieht Grundlagenforschung, etwa an Großforschungsanlagen wie Desy oder Cern, die besten Köpfe an. Tausende Doktorarbeiten entstehen. Noch mehr Forschungsergebnisse werden veröffentlicht. Die Forscher bleiben dann an den Universitäten oder gehen in die Wirtschaft. Diese Kooperation machten die Forscher allerdings zu wenig transparent, ergänzt der Forschungsmanager. "Um physikalisches Neuland zu erreichen, braucht es viel neue Technologie." Das heißt: Der Weg zum Forschungsziel ist gesäumt mit vielen weiteren Hightech-Errungenschaften - beim XFEL in Hamburg beispielsweise die Konstruktion und der Bau der Supraleiter-Technik, die Elektronen fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen.
Für Dosch sind Grundlagenforschung und deren Anwendung eng verbunden. Mit den Röntgenstrahlen von XFEL lassen sich Fragen der Reibung in den Materialwissenschaften oder der Proteinstruktur in der Biomedizin direkt angehen. Deswegen hat auch das Heidelberger Europäische Labor für Molekularbiologie (EMBL) einen Ableger mit neuem Forschungsgebäude auf dem Desy-Campus in Hamburg.
Für Arnulf Quadt, der an der Universität Göttingen Teilchenphysik lehrt und am Cern zum Higgs-Teilchen forscht, ist die Grundlagenforschung noch weitaus stärker erkenntnisgetrieben. "Wir bringen am Cern die weltbesten Experten zusammen. Anwendung und Erfindungen sind nicht unser Ziel", erklärt der Physiker. Quadt vergleicht diesen Teil der Forschung mit Musik und Kunst: "Sie blicken entzückt in den Sternenhimmel. Dann kommen Fragen: Wie weit sind die Sterne? Aus was bestehen sie? Was ist dazwischen?"
Diese Fragen haben zunächst keinen Anwendungscharakter. Es geht Quadt um die Neugierde und das Erkenntnisinteresse an sich. Die Erfahrung zeigt indes, dass aus diesem scheinbar nutzfreien Ansinnen Nützliches entsteht. Das Cern bescherte der Welt das WWW. Detektorbau und Strahlenphysik gaben viele Impulse für die moderne medizinische Diagnostik und Therapie. Wissenschaft und Forschung ziehen die brillantesten Köpfe an. Und diese geben über die Grundlagenforschung ihre Erkenntnisse und Impulse an die Gesellschaft zurück.