Emilia Roig: machtvolle, tief verankerte Hierarchien. Foto: ZG
Von Barbara Klauß
Heidelberg. Welche Privilegien sie haben, ist vielen Menschen nicht einmal bewusst. Wer etwa männlich ist, weiß, nicht behindert und heterosexuell, der weiß oft gar nicht, was es bedeutet, sich Tag für Tag in einer Welt zu bewegen, die nicht für einen selbst entworfen wurde, sondern für andere. Das will die Autorin Emilia Roig vergegenwärtigen.
Roig, 1983 in Frankreich geboren, ist Tochter eines weißen Algeriers mit jüdischem Hintergrund und einer Schwarzen aus Martinique. Seit 2005 lebt die promovierte Politologin in Berlin, wo sie das "Center for Intersectional Justice" gegründet hat. Gerade erschien ihr Buch "Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung". Unsere Welt, meint Roig, ist auf weiße Menschen ausgerichtet. Sie sind die Helden in den Büchern und Filmen, sie repräsentieren das Schönheitsideal, sie besetzen die Machtpositionen. Oder ganz banal: Für sie gibt es das richtige Shampoo und das passende Make-up in jedem Laden. Das nicht gesehen und nicht gehört werden sei unerträglich, sagt Roig. Auch, weil diese nicht gesehenen und nicht gehörten Menschen vielen Formen von Gewalt ausgesetzt seien.
Emilia Roig spricht von einem Machtgefälle in unserer Gesellschaft, das als natürlich erachtet werde. Von kraftvollen Hierarchien, die auf dem Glaubenssatz errichtet wurden, dass wir uns unseren Erfolg und damit auch unseren sozialen Status durch Talent und harte Arbeit erkämpft hätten. Dank der Erzählung, dass jeder verdient, was er hat, könnten wir die enorme wirtschaftliche Ungleichheit in unserer Gesellschaft aushalten, meint Roig. "So wird die Unterdrückung der Minderheiten aufrecht erhalten."
Dabei sei das, was wir für die universelle Wahrheit halten, nichts als Geschichten, die uns erzählt würden, sagt Roig. "Das müssen wir uns bewusst machen." Immer wieder. Es geht ihr darum, auch andere Perspektiven zuzulassen, Vorurteile und Projektionen zu hinterfragen, das System aus Entwertungen und verweigerten Chancen wahrzunehmen – ebenso wie die Vorteile, die uns selbst daraus entstehen. Roig vergleicht das mit einem Kartenspiel, bei dem zwar alle die gleiche Anzahl an Karten erhalten, manche jedoch mehr Joker. "Das heißt nicht, dass sie gewinnen werden", sagt sie. Sie haben einfach nur die größeren Chancen.
Damit der Perspektivwechsel gelingt, ist Empathie nötig – die Fähigkeit und Bereitschaft, nicht nur Mitleid zu fühlen, sondern die Situation, die Gedanken und Emotionen anderer zu verstehen und nachzuempfinden. Mit Blick auf die Menschen, die nicht der "gesellschaftlichen Norm" entsprechen, falle das vielen aus der Mehrheitsgesellschaft schwer, sagt Roig und spricht von einer Empathielücke. Deshalb sei es möglich, dass Menschen in Europa mit Gleichgültigkeit reagieren, wenn Migranten zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken.
Doch Narrative können sich ändern. Liest Roig ihrem Sohn vor, wird aus Anton Greta, aus Thomas Mustafa, aus Mama Papa. "Empathie kann wachsen."Davon ist sie überzeugt.