Sinsheim

"450 Taten mehr als im Jahr zuvor"

Die Schüler des Wilhelmi-Gymnasiums, Kirchen und die Stadtverwaltung gestalteten das Gedenken zum 9. November.

10.11.2021 UPDATE: 11.11.2021 06:00 Uhr 1 Minute, 41 Sekunden
Die „denk mal aktiv“-AG des Wilhelmi-Gymnasiums gestaltete die Feierstunde. Fotos: Alexander Becker

Von Alexander Becker

Sinsheim. "Damals und heute" – unter diesem Leitgedanke haben die Stadtverwaltung, die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) und die "denk mal aktiv"-AG des Wilhelmi-Gymnasiums (WHG) auf dem Synagogenplatz an die Pogromnacht am 9. November 1938 erinnert. Bei Musik des Bläserkreises und nach einem Psalmgebet, wiesen Schülerinnen auf den 9. November als Schicksalstag der Deutschen hin. Die Ausrufung der Republik 1918, die als "Reichskristallnacht" propagierte Zerstörung unzähliger Synagogen 1938 und der Fall der Berliner Mauer 1989 haben sich allesamt an diesem bis heute wirkmächtigen Datum abgespielt.

Auch das jüdische Gebetshaus Sinsheims war den Nationalsozialisten zum Opfer gefallen, allerdings erst einige Stunden später: In den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 zog ein Trupp Sinsheimer SA-Leute, "nationalsozialistische Kampflieder singend, zur Synagoge", erklärten die Schülerinnen.

Wie sie schilderten, habe man damals zunächst die Synagoge anzünden wollen, diese Idee aber nach heftigen Protesten wegen der dicht bebauten Synagogengasse – der heutigen Kleinen Grabengasse – wieder verworfen. Danach deckten die Männer das Dach ab, zerschlugen die Dachsparren und demolierten das Inventar. Dieses wurde anschließend zur heutigen Stadtwiese – damals Robert-Wagner-Platz genannt – transportiert und dort verbrannt. Für acht von den Nationalsozialisten ermordete Juden aus Sinsheim wurde auf dem Gedenkstein am früheren Ort der Synagoge jeweils eine Rose niedergelegt.

Am Synagogenplatz wurden Rosen zum Gedenken abgelegt. Foto: Alexander Becker

Der damals aktiv praktizierte Hass gegen Menschen jüdischen Glaubens ist seit der Entmachtung der Nationalsozialisten nicht aus der Gesellschaft in Deutschland verschwunden. Im Jahr 2020 gab es 1909 antisemitische Vorfälle – "insgesamt 450 mehr als im Jahr zuvor", machte ein Schüler des WHG deutlich, dass Judenfeindlichkeit nach wie vor in der Gesellschaft dieses Lands vorkomme.

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"Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschehen ist. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon", zitierte Oberbürgermeister Jörg Albrecht den Holocaust-Überlebenden Max Mannheimer. Vor dem Hintergrund immer wiederkehrender Anschläge – unter anderem 2019 in Hanau – sei es "umso wichtiger, klar Stellung zu beziehen gegen Hass, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Rechtsextremismus."

Nachdem der Gemeindevorsteher der Neuapostolischen Kirche, Peter Ruf, die Verse 1 bis 8 aus Exodus 19 verlesen hatte, verwies Dekanin Christiane Glöckner-Lang vom Evangelischen Kirchenbezirk Kraichgau angesichts 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland auf unzählige Gemeinsamkeiten mit dem Christentum: "Dies sollte uns Auftrag sein, gemeinsam mit dem Volk Israels auf dem Weg zu bleiben. Gemeinsam auf Gottes Wort zu hören, das Gespräch zu suchen mit dem Judentum, aber auch mit anderen Religionen", riet Glöckner-Lang beim gemeinsamen Fürbittgebet. Pfarrerin Raphaela Swadosch von der Neuapostolischen Kirche forderte, jüdischen Mitbürgern beizustehen, Pastor Jürgen Riek von der Mennonitischen Gemeinde wünschte sich Frieden in Israel, und Dekan Thomas Hafner vom Katholischen Dekanat Kraichgau forderte die Abwehr von Diskriminierung und Rassismus.

"Schenke uns deinen Heiligen Geist, der Tränen trocknet und tröstet, der aufbaut und alles neu mit Leben erfüllt", bat Glöckner-Lang zum Schluss.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
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