Auf dem Friedhof mit einem Kilo Koks
Erst zeigte der Angeklagte "Aggression pur" auf dem Lidl-Parkplatz, dann schläft er vor Gericht mehrfach ein.

Sinsheim. (cba) Es war ein außergewöhnlicher Prozess. Und ein langatmiger. Mehr als vier Stunden verhandelte das Schöffengericht wegen eines 31-Jährigen, der auf dem Gelände des Sinsheimer Friedhofs im Mai 2021 von der Polizei mit fast einem Kilo Kokain erwischt wurde. Aus dem Chatverlauf seines Handys ging hervor, dass er die Drogen nicht nur selbst konsumiert, sondern auch verkauft hat.
Der Chatpartner war zwar geladen, erschien aber nicht. Seinen Wohnort konnte das Gericht nicht ausfindig machen. Dies führte zur ersten langen Unterbrechung der Verhandlung.
Am Prozesstag kam der Angeklagte zu spät zur Verhandlung – und schlief währenddessen auch noch mehrmals ein. Vorgeworfen wurde ihm aber nicht nur der unerlaubte Besitz von Betäubungsmitteln sowie der Handel damit, sondern auch gefährliche Körperverletzung: Er soll mit "großer Brutalität", wie eine Zeugin später berichtete, auf dem Parkplatz des Lidl-Discounters in Sinsheim im Februar 2022 auf einen Mann – der wohl einen Kopf kleiner war als der Angeklagte – eingeschlagen und eingetreten sowie schließlich dessen neues Fahrrad aufgehoben und heftig zu Boden geworfen und stark beschädigt haben. Den Auslöser der Streiterei konnte auch die Richterin nicht aufdecken, denn der Geschädigte, der als Zeuge geladen war, kam auch nicht.
Während der Verhandlung wurde Richterin Bärbel Hönes ein ärztliches Attest zugestellt, aus dem hervorging, dass der gesundheitliche Zustand des Mannes, der nach der Schlägerei mit einem Krankenwagen abtransportiert werden musste und durch die Attacken des Angeklagten offenbar "weggetreten" war, eine Zeugenvernehmung nicht zulasse.
Die Richterin prüfte Diagnoseziffern der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verbarg und las nun vor: Depression, Angststörung, posttraumatische Belastungsstörung. Ob diese psychischen Probleme nun durch die Tat verursacht wurden oder nicht – dies hätte sie gerne herausgefunden, ließ Hönes wissen.
Auch interessant
Zum zweiten Mal wurde die Verhandlung nun für eine längere Zeit unterbrochen. Die Richterin ließ – wie in jüngster Zeit mehrfach am Rande von Prozessen passiert – Polizeibeamte zur Wohnung des Geladenen fahren, die dort allerdings nicht hineingelassen wurden. Der Geschädigte verbarrikadierte sich offenbar, doch von einem gewaltsamen Zutritt sahen die Beamten ab. Der Zeuge muss nun selbst eine Geldstrafe in Höhe von 300 Euro zahlen, weil er trotz Vorladung nicht zum Prozess erschienen war.
Bewährungsstrafe für 31-Jährigen
Doch zurück zum immer wieder vor sich hin dösenden Angeklagten, den die Richterin nach der Urteilsverkündung fragen sollte: "Haben Sie überhaupt etwas mitbekommen?" Seine Antworten blieben einsilbig, immer wieder nickte er weg. Der Mann hatte sich bereits im Allgäuer Raum, wo er aufgewachsen ist, einiges zu Schulden kommen lassen und Vorstrafen wegen Diebstahls und Gewaltdelikten vorzuweisen.
Licht ins Dunkel brachte eine Zeugin, die die Schlägerei auf dem Parkplatz vom Auto aus beobachtet hatte. Der Angeklagte sei "unheimlich brutal" vorgegangen, habe seinen Unterlegenen, der bereits auf dem Boden lag, heftig in Bauch und Oberkörper getreten. Als die Schlägerei "kein Ende gefunden" habe, verständigte die Frau die Polizei. Und "als der, der lag, sich nicht mehr gerührt hat", sei ein Rettungswagen gerufen worden. Zu Beginn der Auseinandersetzung soll der Geschädigte gerufen haben: "Trau dich doch, schlag doch zu". Ein "Husten" des Geschädigten soll der Auslöser gewesen sein, sagte ein Polizeibeamter, schien dies aber nicht für die wahre Ursache zu halten.
Die Zeugin hatte mit dem Smartphone ein Foto von der Szene gemacht, das im Gerichtssaal als Beweis herangezogen wurde. Mehrmals betonte die Frau, wie sie das brutale Vorgehen des Sinsheimers mitgenommen hatte: "Das ging mir durch Mark und Bein. Das war Aggression pur." Sie habe es seither nicht mehr fertiggebracht, in dem Discounter, auf dessen Gelände sich die Schlägerei ereignete, einzukaufen. Der Polizist, der zum Tatort gerufen worden war, meinte: "Die Zeugin war sichtlich ängstlich."
Das Fahrrad des Geschädigten, das dieser als Neuware zum Preis von 635 Euro gekauft hatte, habe der Polizist mit auf die Dienststelle genommen. Sattel und Gangschaltung waren bei dem brutalen Vorgehen des Angeklagten kaputt gegangen. Die Gemütsverfassung des Schlägers beim Eintreffen der Polizei beschrieb der Beamte als "ruhig".
Am Ende kam der 31-Jährige mit einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten davon. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt. Die Auflagen des Gerichts sehen außerdem vor, dass er sich regelmäßig einem Drogenscreening unterziehen und Kontakt zur Selbsthilfegruppe des Blauen Kreuzes aufnehmen muss. Außerdem muss der Mann 2000 Euro an die Lebenshilfe zahlen.