Walldorf

Poetry-Slam darf alles

Bekannte Wortakrobaten sorgen für Begeisterung in der Walldorfer Waldschule.

19.04.2022 UPDATE: 20.04.2022 06:00 Uhr 3 Minuten, 45 Sekunden
Das Publikum in der Aula der Walldorfer Waldschule wurde gut unterhalten. Foto: Helmut Pfeifer

Von Hanna-Cosima Gleis

Walldorf. Das Foyer der Waldschule Walldorf ist von Geplapper erfüllt. Es stoppt erst, als Karsten Hohage die für einen Poetry-Slam typische spartanisch eingerichtete Bühne betritt. Das Walldorfer Forum ’84 hat seine Gäste diesmal nicht in die üblichen Räumlichkeiten eingeladen, aber trotzdem konnte der Charme erhalten bleiben, auch wenn dafür das Foyer der Waldschule zweckentfremdet wurde.

Karsten Hohage, der den heutigen Abend moderiert, beginnt erst mal damit, den "Etikettenschwindel" aufzuklären. "Es wird heute keinen Slam geben", nimmt Hohage den Zuschauern ihre Erwartungen. Es gehe nicht wie sonst bei so einer Veranstaltung üblich darum, am Ende einen Sieger zu küren, sondern darum, dass sich die Zuhörerinnen und Zuhörer einen entspannten Abend machen könnten. Außerdem seien auch nicht alle Text "Poetry" im engsten Sinne, so Hohage, sondern es gebe auch Texte ganz ohne Reime oder Versmaß. "Es ist sozusagen ein Poetry-Slam ohne Slam und ohne Poetry", erklärt Hohage. Dafür sei es eine Autorenlesung von vier unterschiedlichen Autoren.

Der erste ist Stefan Unser aus Karlsruhe. "Beim Slam darf man machen, was man will", leitet dieser in den ersten Text ein, den er heute mitgebracht hat. Es geht um das große philosophische Thema Wahrheit. Tiefsinnige Sätze wie: "Die Wahrheit ist das erfolgreichste Märchen der Menschheitsgeschichte" wechseln sich ab mit aufheiternden Anekdoten und Witzen wie: "Warum haben Frauen so viele Schuhe? Männer stammen vom Affen ab, aber Frauen vom Tausendfüßer."

​Yasmin Abbas aus Mainz zeigte sich als Meisterin der Perspektive. Die Poetry-Slammerin zog das Publikum wortreich in ihren Bann. Foto: Helmut Pfeifer

Er wird von einer jungen Poetin aus Mainz abgelöst, die sich über den Abend als eine Künstlerin der Perspektive erweist. Yasmin Abbas berichtet von einem kleinen Jungen, der zusammen mit seinen Freunden versucht, aus Schrott etwas zu erschaffen. Der Junge ist ihr Vater. Außergewöhnlich daran ist, dass sie die ganze Anekdote über den "kleinen Jungen" spricht und nicht über ihren "Vater als Kind", was eine schöne Sichtweise aufzeigt – und das mucksmäuschenstille Publikum zu fesseln weiß.

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Nach ihr trägt Philipp Potthast, amtierender bayrischer Landesmeister im Poetry Slam – dank der Pandemie seit 2019 – seinen Text über einen Zuckerschock eines Kindes gesundheitsbewusster Eltern vor. Sein Text erntet von den anwesenden Zuschauerinnen und Zuschauern nicht nur laute Lacher, sondern auch mehrmals spontanen Applaus.

Die Poeten wechseln sich an diesem Abend in Walldorf ab. Daher folgt im Anschluss Hohages Text über den Weltrekord im Toilettenschüsseln zerschlagen – mit dem Kopf. Auch diese Überlegungen, wie es nur dazu gekommen sein konnte, so einen Weltrekord aufzustellen, ist humorvoll und locker. Der nachfolgende Text, wieder von Stefan Unser, handelt von seiner Liebe zu Problemen. Das ist ein zunächst heiterer Text über seine Bekannten, die sich stets Probleme suchen, an denen sie sich festhalten können, bis hin zu wahren Erkenntnissen des Lebens wie: "Menschen, die nach dem Urlaub ihr Arbeitspasswort noch kennen, sollte man gleich wieder nach Hause schicken."

Yasmin Abbas betritt erneut die Bühne und performt einen sehr nachdenklichen Text über ihre Emotionen zum Krieg. Den Text hat sie für das Projekt "100 Texte für den Frieden" geschrieben und auch dieser nimmt eine spannende Perspektive ein. Denn darin gibt es keine ganzen Sätze. Nur aneinander gereihte Schlagzeilen, gemischt mit Gefühlen und verbunden durch "Klick, klick". Es ist ein bewegender Strudel aus einzelnen Worten.

Philipp Potthast ist amtierender bayerischer Landesmeister im Poetry Slam. Foto: Helmut Pfeifer

Philipp Potthast spricht danach in einem weniger gereimten, aber humoristischen Werk darüber, dass er eigentlich Autos liebt, weil man als Fahrradfahrer in der Großstadt – er kommt eigentlich aus München – keine hohen Überlebenschancen hat. Er spricht über den Rausch des rücksichtslosen Fahrens und findet den Schwenk zur Klimapolitik. Das Problem daran schildert er lebendig und bringt es auf den Punkt: "Autofahren ist geil, aber moralisch schwierig." Seine überzogenen Anekdoten erheitern das Publikum.

Nach der Pause spricht Stefan Unser in seinem Text über zu viel Wissen in der heutigen Zeit. Hier füttert er das Publikum mit kleinen, heiteren Exkursen zu seiner verstorbenen Oma und zu Biomilch. Schließlich lässt er die Zuschauerinnen und Zuschauer mit der Frage zurück: "Machen wir dumme Sachen, weil oder obwohl wir so viel wissen?"

Yasmin Abbas befasst sich poetisch mit einer Situation, die jeder kennt, dem schon mal das Herz gebrochen wurde. Denn sie beschreibt die Schwierigkeit, sich nach Liebeskummer und zerbrochenen Beziehungen wieder neu zu verlieben. Sie macht starke Gefühle mit starken Stilmitteln nachvollziehbar. Gleichzeitig schafft sie es, dass das Publikum auch die leisen Zweifel raushört und die Sehnsucht, sich wieder fallenlassen zu können, obwohl man schlechte Erfahrungen gemacht hat.

Potthast greift in seinem Text auf die Erfahrungen aus seinem Jurastudium mit lauter wohlorganisierten, leistungsorientierten Menschen zurück. Hierbei versetzt er sich in einen sehr strukturierten Menschen hinein, was ulkig ist, weil er sich selbst nicht zu dieser Gattung zählt. Er behandelt eher leichte Themen, das Publikum hat viel zu lachen, und er kommt zu dem Schluss: "Ich hab gar nicht mein Leben – mich hat mein Leben im Griff."

"Selfcare ist, auch mal Zuhause zu bleiben"

Stefan Unser legt seine Faszination zur Sprache und zu Fragen da. Er habe Angst, dass es irgendwann nur noch viele Antworten und keine Fragen mehr gäbe. Auch Yasmin Abbas nächster Beitrag zeigt ihr Talent für Tiefsinn. Sie beschreibt ein sehr persönliches Gefühl, nämlich von sich selbst distanziert zu sein – nur, um einen geliebten Menschen nicht mit der Wahrheit über sich selbst und über die eigene sexuelle Orientierung zu verletzen. Sie beschreibt ihre Angst davor, im Blick einer nahestehenden Person Ekel zu sehen, sie beschreibt, wie sie innerlich mit einer Gabel spricht, um beim Essen nicht zu sagen, was sie fühlt. Und vor allem geht sie darauf ein, dass sie lieber sich selbst fremd ist als dieser anderen Person.

Ort des Geschehens

Potthast trägt in seinem Abschlusstext seine Gedanken zur "Selfcare" (deutsch: Selbstfürsorge) vor. Er geht darauf ein, dass der Begriff oft nur als Marketingstrategie genutzt wird, damit Menschen Hautcremes und andere Produkte kaufen. Sein Text erzählt mit Reimen und Wortwitzen von exzessivem sozialem Agieren bis hin zur Erschöpfung. "Gesellschaft ist schön, aber noch schöner ist das Alleinsein", trägt er vor und beendet den Abend mit den Worten: "Selfcare ist, ab und zu einfach mal Zuhause zu bleiben."

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