Region Wiesloch

Freiwillige kaufen Fahrzeuge und fahren sie in die Ukraine

Ein Pick-up und ein Kleinbus voll Hoffnung: Bei der Einreise gab es viele Hindernisse. Vertrauen steht an erster Stelle.

28.03.2023 UPDATE: 28.03.2023 06:00 Uhr 4 Minuten, 2 Sekunden
Hilfsmittel und die Fahrzeuge selbst fuhren Annette Ehrnsperger (re.) und ihr Arbeitskollege Michael Sylvester (Mitte) in die Ukraine. Gefüllt war der mit Tarnfarben bemalte Bus mit Privatpaketen, Verbandsmaterial und Hygieneartikeln. Praktisch dabei: die Ladefläche. Foto: privat

Von Sarah Eiselt

Region Wiesloch. "Natürlich dachte ich: ,Was mache ich hier? Ich habe Familie.’ Aber die Menschen dort haben auch Familie. Also wurde nicht lange gezögert", so Annette Ehrnsperger. Gemeinsam mit zwei Arbeitskollegen und einem Freund aus den USA beschafften die vier Freiwilligen zwei Fahrzeuge, beluden sie mit Hilfsgütern und fuhren diese persönlich zu Streitkräften in die Ukraine. Genauer: Zu einer Einheit von Militärstreitkräften im Aufbau, nicht im Kampfeinsatz, die sich umgruppiert und neue Soldaten ausbildet. "Der Moment, als ich wirklich Angst hatte, war, als die Ukraine in der Nacht mit Raketen beschossen wurde, als wir gerade von Polen aus die Grenze passieren wollten", erzählt die 50-Jährige aus St. Leon-Rot weiter.

Die Kontaktleute aus der Ukraine hatten immer wieder versichert, dass sie sich nicht in der Kampfzone befinden würden, mehr als 1000 Kilometer seien sie davon weg. "Wenn in der einen Nacht das Land bombardiert wird, ist die zweite meist ruhig", sagten sie zu Ehrnsperger und ihrem Kollegen Michael Sylvester. "Wenn’s trifft, dann trifft’s. Ich kann entweder gehen oder eben nicht", war sein Gedanke im Vorfeld. "Aber ich habe mich nur einmal entschieden, das muss ich nicht 50 Mal überdenken." Mit der Fahrt und dem Aufenthalt am Grenzübergang war das Projekt damit im vollen Gange.

Die Kollegen lernten sich gerade erst im Sommer letzten Jahres bei einer gemeinsamen beruflichen Projektarbeit kennen. "Mit Entsetzen haben wir den Kriegsbeginn letztes Jahr verfolgt", erinnert sich Sylvester, der sich schon immer auch für die Geschichte rund um die frühere Sowjetunion interessierte und in Walldorf Ukrainern auch Deutsch beibringt.

"Wir haben wiederum letzten Frühling drei kleine unbegleitete Kinder bei uns zu Hause aufgenommen. Da haben wir verstanden und gesehen, was der Krieg mit Familien, Müttern, Vätern, den Kindern, macht", erinnert sich Ehrnsperger.

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Mit der Motivation "Irgendetwas muss man doch tun" stieß Sylvester dann in seiner Mittagspause auf einen Podcast. Es folgten unzählige E-Mails und Anlaufstellen, später Telefonate, nachdem genug Vertrauen aufgebaut worden war, auch persönliche Treffen.

Was es zur Hilfe für die ukrainischen Streitkräfte brauchte: Ein Fahrzeug, genauer gesagt wurden daraus sogar zwei. ",Kaufen Sie einen Pick-up, alt, ohne Elektronik’, hieß es von den Kontaktleuten aus der Ukraine. Dadurch ist er leicht vor Ort zu reparieren", erzählt Sylvester. Dellen? Lackierung? Irrelevant, die einzige Voraussetzung: Der Motor läuft und die Gänge lassen sich schalten und das Wichtigste: "Er musste selbstständig hingefahren werden", ergänzt Ehrnsperger.

Besonders Mitsubishi, Nissan oder Ford seien gefragt. "Das wären die besten, die Ersatzteile gebe es vor Ort und die Reparatur sei vergleichsweise einfach" gibt Sylvester wieder.

Gesagt, getan. Das Team sammelte Spenden bei der Familie, Freunden, Bekannten oder weiteren Kollegen. Der Rest wurde in Eigenleistung finanziert. Geld streckten die Unterstützenden schließlich vor und unternahmen die An- und Abreise inklusive Tankfüllungen und Übernachtungen ebenfalls auf eigene Kosten. Auf der Suche nach dem Pick-up zog es die Helfer aus dem Rhein-Neckar-Kreis dann in den Norden: Von einem Privatbesitzer aus dem Sauerland kauften sie das Fahrzeug.

Bei der Vor-Ort-Besichtigung kam dann aber auch gleich die Überraschung: Der Verkäufer des Pick-ups hatte auf seinem Privatgelände einen kleinen Bus, zuvor zu einer Art Wohnmobil umgebaut, den er auch inserieren wollte.

Ehrnsperger und Sylvester zögerten nicht lange, hielten Rücksprache mit den ukrainischen Kontaktleuten und schnell war klar: "Nach Möglichkeit bitte auch den Bus. Auch wenn es kein Geländefahrzeug war, es soll als Evakuationsfahrzeug dienen. Auf die kleine Fläche hinten könnten auch verletzte Menschen gut hingelegt werden", erklärt Ehrnsperger.

Eigentlich wollten sie mit beiden Fahrzeugen gleichzeitig in die Ukraine fahren. "Das klappte aber nicht. Erst brachten wir den sandfarbenen Pick-up Ende Februar, bei einer zweiten Fahrt Anfang März dann den tarnfarbenen Bus, da dieser am Anfang noch repariert werden musste", so Ehrnsperger. Das sei aber letzten Endes sogar gut gewesen: "So konnten wir uns die lange Fahrt von Deutschland aus in die Ukraine aufteilen. Einer konnte fahren, einer koordinieren", ergänzt sie.

Und dann ging es los, morgens um 5 wurde das Auto beladen. Im Vorfeld besprachen sich die Freiwilligen mit Kontaktleuten aus der Ukraine, darunter eine Militärarztin. Was könnten sie noch mitbringen? Notfallmedizin, Verbandsmaterial, Damenhygieneartikel, sowie handgefertigte Kerzen aus alten Wachsresten aus Walldorf (die RNZ berichtete) füllten schnell den Kofferraum. "Wir konnten aber nicht hinfahren und ,nur’ Praktisches mitnehmen. Die brauchen auch etwas für die Seele, fürs Gemüt", erzählt Ehrnsperger, die die Ladung mit unzähligen Keksen erweiterte, um den ukrainischen Streitkräften auch mentale Unterstützung und Zuversicht mitzubringen.

Hilfsmittel und die Fahrzeuge selbst fuhren Annette Ehrnsperger (re.) und ihr Arbeitskollege Michael Sylvester (Mitte) in die Ukraine. Gefüllt war der mit Tarnfarben bemalte Bus mit Privatpaketen, Verbandsmaterial und Hygieneartikeln. Praktisch dabei: die Ladefläche. Foto: privat

Bei der zweiten Fahrt wurde die Beladung dann um private Kartons und Pakete von Menschen aus der Region ergänzt, die die Ukrainer ebenfalls unterstützen wollten. Handbeschriftet waren diese mit Worten wie "Kraft und Stärke der territorialen Armee" als Zeichen der Verbundenheit und Anteilnahme, so Sylvester. Über 15 Stunden sind sie teilweise am Stück gefahren.

Bei der zweiten Fahrt standen sie an insgesamt drei Grenzübergängen, weil nichts funktioniert hat, wie es sollte. Ob vermeintlich fehlende Dokumente, polnische Polizeieskorte, die ein unerlaubtes Überqueren der Grenze verhindern wollten, oder Sorgen um die Ladungssicherung und generelle Problematik der Einreise in die Ukraine. Durch das starke Vertrauen zu den Kontaktleuten waren sie nie auf sich allein gestellt und standen immer in engem, telefonischem Kontakt.

"Außerdem brachte uns viel Durchhaltevermögen und satirischer Humor durch die ganze Aktion", so Ehrnsperger, die sich die Wartezeit mit ihrem Kollegen Sylvester auch mit Empfehlungen von Buch- oder Musiktiteln und Geschichten vertrieb. Infolge des langen Wartens und des vielen Sitzens waren in der Warteschlange an der Grenze auch leichte Bewegungs- und Sportübungen rund um den Pick-up herum nötig.

Besonders auffällig ist der Einfluss des Kriegs auf die Menschen vor Ort: "Es werden Kirchenfenster geschützt, Statuen werden zum Schutz mit Metallgittern abgehängt, überall liegen Sandsäcke. Die Menschen werden nachts mehrfach aus dem Schlaf gerissen von Warnungen, Alarmzeichen oder Raketen. Trotzdem leben sie ihre Normalität – oder versuchen das zumindest", so die 50-jährige Familienmutter.

Bei der ersten Fahrt hielten sie sich noch zurück, regelmäßig Updates und Statusmeldungen an ihre Familien in Deutschland zu senden. Damit sich niemand unbegründet Sorgen macht und auch zur Sicherheit der ukrainischen Streitkräfte. "Wir wussten ja selbst nicht, was uns erwartet, da mussten wir vorsichtig sein. Beim zweiten Mal waren wir da schon entspannter", lacht sie. Eine dritte Fahrt soll es auf jeden Fall geben, "aber dafür fehlt uns im Moment noch das Budget", so Ehrnsperger.

Info: Weitere Informationen zur Hilfsaktion gibt es auf der Webseite der Helfer: www.pickup4ukraine.org.

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