Machtkampf auf dem Neckar

Die Gänse sind los (plus Video)

Das komfortable Leben der Schwäne ist vorbei - Neue Gänsearten machen ihnen den Lebensraum streitig - Zahl der Enten ist dramatisch zurückgegangen

09.06.2017 UPDATE: 10.06.2017 06:00 Uhr 3 Minuten, 21 Sekunden

Andreas Quell zeigt auf das gegenüberliegende Ufer des Neckars in Neckarsteinach. "Da!", sagt der 62-Jährige. "Jetzt geht der Schwan wieder auf die Gans los." Der stattliche Höckerschwan nimmt regelrecht "Anlauf" auf dem Wasser, wird immer schneller, plustert sich auf und schnappt mit seinem langen Hals nach der Kanadagans, der im letzten Moment mit einigen kräftigen Flügelschlägen die Flucht gelingt. Szenen wie diese spielen sich in diesen Tagen beinahe im Stundentakt ab. Auf dem Neckar tobt ein Machtkampf.

Andreas Quell beobachtet diesen täglich auf seinen Touren am Neckar zwischen Neckargemünd und Eberbach. Der Vogelexperte und Zweite Vorsitzende des Neckarsteinacher Naturschutzbundes (Nabu) verfolgt die Entwicklungen und die Veränderungen auf und neben dem Wasser schon seit vielen Jahren, notiert Sichtungen und Anzahl der Vögel und deren Nachwuchs. "Auf dem Neckar hat sich in den letzten Jahren einiges verändert", sagt der 62-Jährige, der als Hausmeister an der Freiherr-vom-Stein-Schule der Vierburgenstadt arbeitet. "Aber dieses Jahr ist es in Neckarsteinach wirklich außergewöhnlich." Dass sich so viele Arten miteinander arrangiert haben und teilweise nur 20 Meter voneinander entfernt brüten, sei eine Premiere. "Offenbar fangen sie an, sich aneinander zu gewöhnen."

Bis vor wenigen Jahren waren die Verhältnisse auf dem Neckar klar: In jedem Ort gab es ein Paar der schneeweißen Höckerschwäne und zahlreiche Stockentenpaare, die harmonisch zusammenlebten. Doch das hat sich gravierend verändert: Es sind neue Gänsearten wie die Nil- und die Kanadagans hinzugekommen, während die Enten beinahe komplett verschwunden sind. Um das zu erkennen, muss man kein Biologe sein, da reicht der Blick aufs Wasser.

Doch woran liegt das? "Mit dem Auftreten der Nilgans war das harmonische Leben vorbei", sagt Andreas Quell. Die ersten Exemplare der aggressiven Tiere mit dem bunten Gefieder hat der Vogelexperte in Neckarsteinach im Jahr 2003 beobachtet. Die aus Richtung Heidelberg kommenden Nilgänse eroberten drei Jahre später sogar die sogenannte Schleuseninsel - eine begrünte Fläche an der Schleusenkammer, auf der zuvor immer ein Schwanenpaar gebrütet hatte. Sie ärgerten die brütenden Schwäne so lange, bis diese ihr Nest verließen. Die Schwäne schienen zunächst überfordert mit der unbekannten Konkurrenz und ließen die Nilgänse dort brüten, berichtet Quell. Doch mit der Zeit lernten die Schwäne, sich immer mehr durchzusetzen - schließlich sind sie auch größer. Erwin Binder, der Erste Vorsitzende des Nabu, berichtet, dass die Nilgans nicht gerade wählerisch ist und auch schon - offenbar ohne nachzudenken - in luftiger Höhe in der Steilwand beim Schwalbennest im Nistkasten eines Wanderfalken gebrütet hat. Für die Küken ist das jedoch der sichere Tod: Sie überleben den Sturz in die Tiefe nicht.

Noch relativ "neu" am Neckar ist die Kanadagans, die durch ihren pechschwarzen Hals auffällt. Andreas Quell hat die erste Brut im Jahr 2014 festgehalten. "Die diesjährigen Kanadagänse entstammen einer Großfamilie mit 13 Tieren, die sich im Februar getrennt hat", berichtet er. Sechs Gänse blieben in Neckarsteinach. Zwei Paare hatten bei ihrer Brut oberhalb der Schleuse Pech: Die insgesamt vier Jungen überstanden das leichte Hochwasser vor einigen Wochen nicht. Aktuell hat ein Paar unterhalb der Schleuse vier Junge. Das Hochwasser kostete auch fünf Küken von zwei Nilganspaaren oberhalb der Schleuse das Leben. Von den acht Jungen eines anderen Paares haben sieben überlebt. Sie halten sich oft am Neckarlauer auf. Erst kürzlich geschlüpft und damit noch ganz jung ist der Nachwuchs eines Höckerschwanpaares mit vier Küken - ebenfalls unterhalb der Schleuse. Ein Schwanenpaar - erstmals sind es zwei in Neckarsteinach - brütete vor Kurzem noch auf der Schleuseninsel.

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Es ist also einiges los derzeit auf dem Neckar. "Es wird immer schwieriger, da den Überblick zu behalten", schmunzelt Andreas Quell. Die Ursachen für die Veränderungen sieht der Vogelexperte nicht im Klimawandel. Die nicht heimischen Gänse seien vielmehr aus Zuchten ausgebüxt und könnten sich mangels Feinden gut vermehren. Zudem werden sie noch im Winter unnötigerweise gefüttert.

Apropos Veränderung: Dramatisch fällt diese bei den Stockenten aus: Früher lebten am Neckarsteinacher Neckar mehrere Dutzend Entenpaare und hatten jedes Jahr flauschigen Nachwuchs - dieses Jahr hat Andreas Quell bisher nur ein Junges gesehen. "Die Stockenten leiden heftig, es sieht schlecht aus", meint der 62-Jährige. "Sie sind die Schwächsten auf dem Wasser." Ursache seien aber eher nicht die neuen Gänsearten, auch wenn eine Nilgans eine Ente schon einmal am Hals packen und wegschleudern könnte. Problematisch seien vielmehr freilaufende Hunde, die auf die am Ufer brütenden Enten losgehen, störende Angler, Füchse und Marder, die nachts die Eier holen, und die massive Zunahme des Welses, der die ganzen Küken regelrecht von unten "einsaugt".

Manche Anwohner sind inzwischen genervt. Denn während Schwäne und Enten ein eher ruhiges Leben geführt haben, kann die Nilgans ganz schön laut "schreien" und die Kanadagans "trompetet" gerne, sagt Quell, der Ortsbeauftragter der Vogelschutzwarte Frankfurt und Naturschutzwart für die Untere Naturschutzbehörde des Rhein-Neckar-Kreises ist.

Quell berichtet noch von einer Rettungsaktion am 1. Mai. Weil eine Kanadagans ihre frisch geschlüpften Küken auf der Schleuseninsel in die Kammer führte, wurde am Feiertag sogar der Schleusenwärter gerufen. Denn in der Kammer hätten die Jungen nicht überlebt. Das Schleusentor wurde geöffnet, aber die Küken überlebten das folgende Hochwasser nicht. "Einem Schwan wäre das nie passiert", sagt Quell. Am Ausdruck der "dummen Gans" sei also doch was dran...

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