Corona-Risiko im Kindergarten - "Wir fühlen uns schutzlos und hilflos"
Der inklusive Kindergarten "Morgentau" schrieb einen Offenen Brief an die Ministerien und Landtagsfraktionen.

Von Sebastian Lerche
Wiesloch. "Wir sind einem Risiko ausgesetzt: Uns geht es darum, dass man das anerkennt und entsprechend reagiert." Das Team des inklusiven Kindergartens "Morgentau" der Lebenshilfe Wiesloch hat einen offenen Brief an Kultusministerin Susanne Eisenmann, an Minister Manne Lucha vom Ministerium für Soziales und Integration sowie an die Landtagsfraktionen von Grünen, CDU, SPD und FDP gerichtet. Inhalt: ein Hilferuf und auch einige Kritik. "Wir fühlen uns schutzlos und hilflos", sagen Heidrun Lüll und Tanja Fürstenberger vom Morgentau-Team im Gespräch mit der RNZ.
Sie weisen besonders auf das hohe Risiko für Kinder mit geschwächtem Immunsystem oder Kolleginnen und Kollegen höheren Alters oder mit etwaigen Vorerkrankungen hin, auch in anderen Kindertagesstätten (Kita). Im "Morgentau" werden 60 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren betreut. Jede Gruppe besteht aus zehn Kindern im Regelbereich und fünf mit erhöhtem Förderbedarf, einige davon haben beispielsweise Down-Syndrom, Autismus-Spektrum-Störungen, einen Entwicklungsrückstand in mehreren Bereichen oder schwerste beziehungsweise Mehrfachbehinderungen.
Das Morgentau-Team besteht aus pädagogischen Fachkräften wie Erzieherinnen und Erziehern sowie Heilerziehungspflegekräften, einer Physiotherapeutin sowie weiteren Betreuungskräften und Mitarbeitern. Unterstützt wird es zeitweise von einer Ergotherapeutin, einer Logopädin und Sonderpädagogen der Tom-Mutters-Schule der Lebenshilfe – zumindest außerhalb der Corona-Krise, jetzt ist das allenfalls stark eingeschränkt möglich.
"Wir sehen das gesundheitliche Wohl unserer Schützlinge und der Mitarbeiter wie auch unsere pädagogische Arbeit durch die Corona-Pandemie und Ihren damit einhergehenden politischen Entscheidungen trotz der strengen Einhaltung der Hygienemaßnahmen und Maskenpflicht der Mitarbeiter als gefährdet", heißt es im Brief.
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In der Kinderbetreuung ist es generell schwierig, die Hygieneregeln einzuhalten. Zur Herausforderung wird es bei Kindern mit diesem Förderbedarf: "Soweit möglich tragen wir Mund-Nasen-Schutz oder Visier, aber das geht nicht immer", erklärt Heidrun Lüll. Die Kinder müssten manchmal einfach das Gesicht ihrer Bezugsperson sehen. Zudem könnten nicht alle in die Armbeuge niesen oder husten.

"Und alle 15 Minuten lüften ist weder alltagstauglich noch kindgerecht", meint Tanja Fürstenberger, nicht nur mit Verweis auf den kalten Winterwind der letzten Wochen. Kinder mit körperlicher Behinderung aus der Zugluft zu nehmen und neu zu positionieren, sei für sie unangenehm und "Stress pur".
Eine Studie der AOK vom Dezember 2020 zeigt auf, "dass keine andere Berufsgruppe bislang so oft an Corona erkrankt ist wie das Fachpersonal in Kindertagesstätten", schreibt das Morgentau-Team. "Auch das Argument, dass Kinder keine Überträger des Corona-Virus seien, ist nicht bewiesen." Als Beispiel führt Tanja Fürstenberger vier an Corona erkrankte Morgentau-Kinder während der Weihnachtsferien auf.
Gegenwärtig läuft die Notbetreuung, die aber im Vergleich zum Frühjahr 2020 so locker geregelt ist, dass sie den Namen nicht verdient. Damals mussten die Eltern eindeutig nachweisen, dass sie dringenden Bedarf haben und die Belegung der Gruppen war auf 50 Prozent limitiert. "Jetzt haben wir 71 Prozent der Kinder zu betreuen, Tendenz steigend", betont das Morgentau-Team. Andere Kinderbetreuungseinrichtungen sind ähnlich stark belegt, wie die "Corona-Kita-Studie" des Deutschen Jugendinstituts und des Robert-Koch-Instituts belegt.
Im privaten wie im öffentlichen Raum würden Verstöße gegen die Kontaktbeschränkungen hart bestraft, argumentiert das Morgentau-Team. In der Kita aber werde das erwartet: "Das ist nicht nur höchst paradox, sondern ignoriert zudem die Menschen, die hinter den Zahlen stehen." Heidrun Lüll und Tanja Fürstenberger fordern daher wieder strengere Notbetreuungsregeln. Man müsse jetzt vorarbeiten, denn das sei sicher "nicht die letzte Pandemie" oder sonstige Notlage.
Und wie wird das erst, wenn ab nächster Woche regulär geöffnet werden soll? "Wie kann das Infektionsrisiko klein gehalten werden?" Seit einem Jahr befinde man sich in der Corona-Krise, so Heidrun Lüll, und immer noch seien so viele Fragen offen. "Dieser Zustand", schreibt das Team, "steht in keinem Verhältnis zu den derzeitigen Verordnungen, geschweige denn zur Solidarität mit den Schutzlosen zu Zeiten der Pandemie."

Der Morgentau-Kindergarten zeigt dabei volles Verständnis für "die Not aller Eltern". Dabei gehe es nicht nur um Berufstätige, wie es im Brief heißt. "Was ist mit Arbeitssuchenden oder Eltern in Elternzeit? Deren Kindern ist der Besuch einer Notbetreuung untersagt." Für das Morgentau-Team wird damit ein sensibler Punkt getroffen: "Verordnungen, die zur Folge haben, dass Minderheiten strukturell ausgegrenzt werden, sind in Zeiten der Inklusion nicht angemessen."
Der Appell: "Wir wollen klare Vorgaben, wir wollen Schutz, wir wollen Sicherheit – für die Kinder, die Eltern, unsere Kollegen, für jeden Einzelnen." Selbstverständlich sei eine schnellstmögliche Öffnung der Kindertagesstätten erstrebenswert, schreibt das Morgentau-Team: "Leider sehen wir unter den aufgeführten Aspekten und der zunehmenden Ausbreitung der Mutationen eine Öffnung von Kindertagesstätten ohne klare Regelungen, die ein Höchstmaß an Sicherheit bieten, als nicht tragbar an."
"Wir wollen in einen Dialog treten, um gemeinsam Lösungen zu finden." Man habe selbst kein "Patentrezept", so Heidrun Lüll. Daher wende man sich an die Politik auch mit der Bitte um Rat und klarere, praxisnähere Handlungsvorschläge. Und man fordert im Brief den "Zugang zu Schnelltests, zwei Mal die Woche, für alle Beschäftigten", "ausreichend FFP 2-Masken, mindestens zwei pro Mitarbeiter und Tag", genügend Lüftungsanlagen und mehr finanzielle Mittel für die erhöhten Hygienestandards. Außerdem will man strengere Regeln für die Notbetreuung sowie eine "besondere Berücksichtigung der Situation unserer inklusiven Einrichtung".