Wie sich der Missbrauchsskandal auf die evangelische Kirche auswirkt
Die evangelischen Pfarrer sprechen über ihre Sicht zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche.

Von Annette Steininger
Hirschberg. Das neue Gutachten zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising erschüttert nicht nur die katholische Kirche. In einer Zeit, in der sich die Menschen ohnehin schon vermehrt von der Kirche abwenden, trifft die Veröffentlichung von Missbrauchszahlen und Vertuschungen auch die evangelische Kirche. Die RNZ hat die Pfarrer Tanja Schmidt (Leutershausen) und Friedel Goetz (Großsachsen) befragt, welche Auswirkungen das Gutachten auf die evangelische Kirche hat.
Dass es welche gibt, davon ist Schmidt überzeugt. "Die Tatsche des Missbrauchs und die Vertuschungspraxis stellt das Vertrauen in die Institution Kirche allgemein in Frage", sagt die evangelische Theologin ganz klar. Dem stimmt auch Goetz so zu. Ob es dadurch zu mehr Austritten kommt, kann die Pfarrerin nicht eindeutig beantworten, da ihr Menschen, die austreten, fast nie die Gründe nennen würden. Ein Wechselverhalten von der einen zur anderen Konfession aufgrund der Missbrauchsvorfälle hat Schmidt aber ganz eindeutig feststellen können. "In den letzten Jahren treten immer wieder bei uns Menschen ein, die vorher ganz bewusst aus der katholischen Kirche ausgetreten sind, auch aus diesen Gründen." Die Menschen wollten aber weiterhin einer Kirche angehören. Gerade erst am Sonntag sei eine Person ausdrücklich deswegen übergetreten, berichtet Schmidt. Auch Goetz hat diese Erfahrung gemacht und verzeichnete im Januar zwei Konfessionswechsel.

Triumphgefühl kommt aber bei keinem auf. "Ich weiß, dass es auch in den evangelischen Landeskirchen Missbrauch gab und dass er auch bei uns vertuscht wurde", erzählt Schmidt. Vielleicht sei er nicht so systematisch und breit gewesen. "Aber auch die evangelische Landeskirche muss sich diesem Thema stellen", findet die Pfarrerin. Missbrauch ist aus ihrer Sicht ein Thema aller Institutionen. "Es fand und findet auch in Vereinen oder Schulen statt. Alle sind dazu aufgerufen, ihre Mitarbeiter zu schulen und sie für das Thema zu sensibilisieren", fordert Schmidt. Beide Kirchen hätten sensibilisierende "Alle Achtung"-Schulungen für ihre Mitarbeiter verpflichtend gemacht, die im Kinder- und Jugendbereich tätig sind.
Goetz sieht den Vergleich anders als Schmidt: Die evangelischen Missbrauchskontexte, die es weiter zu bekämpfen gelte, kämen meist aus einer "Kumpel-Kultur", im Gegensatz zum katholischen Klerikalismus. Daher findet er es "nicht hilfreich, jetzt gemeinsame Probleme zu sehen, die die evangelische Kirche bereits seit einigen Jahrhunderten überwunden hat". Die evangelische Kirche hebe ihre Amtsträger nicht auf "eine anthropologisch überhöhte Ebene, die zur Verherrlichung kirchlicher Hierarchien einlädt". Und: "Wir erziehen unsere Amtsträger nicht durch zentralistische Lehre zu einer Sexualethik der Enthaltsamkeit, die für die meisten Menschen nicht lebbar ist." Auch gebe es in der evangelischen Kirche keine starke Bewegung, die die Schuld an den Missbrauchsfällen seit Jahren von Verantwortung der Kirchenleitung fernhalten möchte, so Goetz. "Deshalb finde ich in diesem Fall eine Abgrenzung wichtig. Nicht zu katholischen Schwestern und Brüdern, jedoch zu einem katholischen Kirchenverständnis."
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Hintergrund
Auch in Weinheim ist es seit Jahresbeginn zu einer erhöhten Anzahl an Kirchenaustritten gekommen. "Der Kirchenaustritt erfolgt stets ohne Angabe von Gründen. Somit wissen wir nicht, was die Austretenden antreibt", erklärt Standesamtsleiterin Andrea Klawonn. Die Zahlen lassen
Auch in Weinheim ist es seit Jahresbeginn zu einer erhöhten Anzahl an Kirchenaustritten gekommen. "Der Kirchenaustritt erfolgt stets ohne Angabe von Gründen. Somit wissen wir nicht, was die Austretenden antreibt", erklärt Standesamtsleiterin Andrea Klawonn. Die Zahlen lassen aufhorchen: So traten im Januar 2021 noch 15 Menschen aus der Kirche aus, davon sieben aus der katholischen. 2022 waren es vom Jahresanfang bis zum 28. Januar bereits 52 Austritte. 24 davon betreffen die katholischen Kirche, also wieder in etwa die Hälfte. Für die ersten beiden Februar-Wochen stehen rund 30 Termine für Kirchenaustritte fest. Die Stadt Weinheim ordnet dies als "sehr außergewöhnlich" ein. (web)
Die RNZ will auch wissen, was die katholische Kirche nun ändern sollte. Schmidt wünscht sich von beiden Kirchen "einen offenen Umgang mit eigener Schuld". Um wieder mehr Mitglieder zu gewinnen, sollte "die Kirche nah bei den Menschen sein". "Ein überwältigend positives Beispiel" sind aus ihrer Sicht die täglichen Dienste – jeweils stündlich von 10 bis 22 Uhr – von Seelsorgerinnen und Seelsorgern im Neuenheimer Feld und der Heiliggeistkirche anlässlich der Amoktat in Heidelberg. Aus der ganzen Region kämen katholische und evangelische Seelsorgerinnen und Seelsorger zusammen, um dort für die Menschen da zu sein. Dieses Gesprächsangebot werde dankbar wahrgenommen, schildert Schmidt ihre Erfahrungen. Gerade von Menschen, die von sich aus niemals einen Geistlichen anrufen würden. "Ich denke, wie müssen allgemein viel mehr solche offenen, niedrigschwelligen Angebote machen."
Dem stimmt Goetz zu und ergänzt: "Die Aufgabe besteht darin, den Traditionellen weiterhin eine Heimat zu geben und zugleich neue spirituelle Wege einzuschlagen, sich in den Dienst der Menschheit zu stellen und dabei nicht auf innerkirchliche Aufgaben beschränkt zu bleiben." Goetz wünscht sich dafür neue Dienstpläne für Pfarrer und ein anders strukturiertes Theologiestudium. Vor Ort zähle nach wie vor die persönliche Nähe zu den Menschen – "doch dafür bedarf es auch struktureller Unterstützung".
Die Evangelische Kirchengemeinde Leutershausen gehe seit Corona noch viel mehr als vorher nach draußen und sei damit im öffentlichen Raum sichtbar, schildert Schmidt die Bemühungen vor Ort. So hätten die Open-Air-Gottesdienste zu Weihnachten und der Weg zur Krippe durch das Dorf die Familien begeistert. Schmidt glaubt, sie sollten vermehrt verbreiten, was alles Kirche ist, zum Beispiel Telefon- und Notfallseelsorge oder auch die Bahnhofsmission. Dem pflichtet Goetz bei: Gerade in der Seelsorge habe Corona die "Sichtbarkeit" sehr eingeschränkt. "Das darf nicht mehr lange so bleiben." > Hintergrund