Unterwegs mit dem Neun-Euro-Ticket

Mit Gelassenheit geht’s Zug um Zug ans Ziel

Frei von Stress Heimat und Mitmenschen kennenlernen. Verspätungen gehören dazu.

12.06.2022 UPDATE: 13.06.2022 06:00 Uhr 2 Minuten, 19 Sekunden
Wer Verspätungen gelassen in Kauf nimmt, kann mit dem Neun-Euro-Ticket stressfrei Reisen, befindet Bernd Kühnle beim Selbstversuch. Vor allem der entspannte Blick aus dem Fenster bei der Fahrt durchs Neckartal begeisterte ihn. Foto: DB/Thomas Henne

Von Bernd Kühnle

Neckar-Odenwald-Kreis. "Bauarbeiten auf der Strecke *** 10 Minuten Verspätung", lautete die erste Laufband-Nachricht, die mir am vergangenen Wochenende auf dem Bahnsteig in Neckargerach entgegen blinkte. Es sollte nicht die einzige dieser Botschaften bleiben, an nahezu jedem Umsteigepunkt auf meinem Weg nach Nürtingen werde ich über Verspätungen auf der von mir ausgewählten Neckartalstrecke informiert: "Personalausfall", "60 Minuten später", "Zug auf der Strecke", "Ohne Halt", "Bauarbeiten" und eine schier endlose Auswahl an Gründen, warum gerade meine Bahn nicht zu der Zeit ankommen oder wegfahren kann, die ich dem Fahrplan bei meiner sorgfältigen Planung des Wochenend-Trips entnommen habe.

Auslöser war das Neun-Euro-Ticket, mit dem ich versuchen wollte, die Dieselpreise von mehr als zwei Euro pro Liter zu überlisten und mir die obligatorischen Strafmandate zu ersparen, die ich bislang noch auf jeder Fahrt sammelte, wenn ich meine Tochter in Nürtingen besuchen wollte. Nun drohte mein minutiös gestalteter Plan schon auf dem ersten kleinen Teilabschnitt hinfällig zu werden.

Trotz Verspätungen überwiegt erholsame Freude an der Fahrt mit dem Neun-Euro-Ticket. Foto: Bernd Kühnle

Völlig unvermittelt fährt dann schon zehn Minuten vor der erwarteten Abfahrt ein Zug aus Richtung Eberbach ein, der laut Beschilderung verspricht, mich nach Neckarelz zu bringen. Die junge Dame neben mir ist einen kurzen Moment nicht weniger erstaunt als ich, scheint aber schon Zug-erfahrener zu sein. Ihr lockeres: "Kann passieren!" zeugt jedenfalls von einer gewissen Abgeklärtheit.

So stehe ich also zehn Minuten zu früh auf dem Bahnsteig Neckarelz und kann mir jede Menge Zeit lassen, um den Bahnsteigwechsel zu absolvieren und mir einen Gesprächspartner zu suchen, mit dem ich die Zeit auf dem nächsten Streckenabschnitt verplaudern kann. Der Herr neben mir scheint der Gelegenheit zur Unterhaltung nicht abgeneigt und hat mit seinem "Kennerblick" offenbar bereits ausgemacht, dass ich schon seit längerer Zeit keine Bahnfahrt mehr hinter mich gebracht habe. "Sie fahren wohl nicht so oft mit der Bahn?", stellt er halb fragend fest, als ich immer wieder meine Fahrplannotizen aus der Tasche krame, von denen ich mir eine gewisse Sicherheit verspreche. "Ist bestimmt schon 20 Jahre her, dass ich mit dem Zug gereist bin", kläre ich auf. Die Mimik meines Nebenmannes wechselt sofort in Richtung überlegen-wohlwollend. "Wohin soll’s denn gehen?" Ich nenne mein Ziel und Route – und erhalte sofort nützliche Tipps: "In Bad Friedrichshall müssen Sie auf den Schienenersatzverkehr umsteigen, da sind irgendwelche Bauarbeiten im Gang." Jetzt weiß ich auch, was die Gleisbezeichnung "SEV" auf meiner Fahrplanauskunft bedeutet.

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In Heilbronn wird der Zug richtig voll, aber die forsche Schaffnerin erklärt einer Dame in Wollstrümpfen und Buffalo-Boots, dass sie ihr Fahrrad nicht vor den Sitzreihen im Zug abstellen darf. Also weg mit dem Drahtesel in den Vorraum und ich hab meinen Sitzplatz sicher.

Dann beginnt der interessanteste Teil der Fahrt: Neben Ortsnamen, die ich bislang noch nie gehört hatte (Kennen Sie Oberboihingen?), lerne ich auch schnell einen Querschnitt der Bevölkerung kennen, der mir bei einer Autofahrt entgangen wäre: Mein erster Gegenüber zeigt großes Interesse an meinen "Crocs" und schwärmt von Hightech-Sportschuhen, während die nächste Dame stolz eine ganze Batterie an Geschenken aus den Einkaufstaschen zerrt, die sie für ihre Enkel in Anatolien gekauft hat.

Danach folgt eine Phase des Schweigens, denn eine Gruppe Jugendlicher entert den Zug und verfällt sofort in Sitzstarre, kaum dass sie die Sitze berührt hat. Allerdings tippen die Finger unablässig auf die Tastatur ihrer Smartphones und ab und an huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Mein Blick schweift durch die schöne Landschaft und meine Gedanken ziehen Richtung Autobahn, wo sich sicher gerade ein Heer durch Staus und Mittelspur-Schleicher Frustrierter mühsam vorwärts quält, während ich als Neun-Euro-Privilegierter schon meiner stressfreien, entspannten Rückfahrt entgegenfiebere. Und mich noch ein bisschen am Einfallsreichtum der Deutschen Bahn in Sachen Verspätungsgründe erfreue ...

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