Kernkraftwerk Obrigheim: Es ist immer noch da
Am 11. Mai 2005 wurde das Kernkraftwerk Obrigheim (KWO) abgeschaltet - Äußerlich unverändert, liefert es weiter Gesprächsstoff

Von Heiko Schattauer
Obrigheim. Auf den Tag genau zehn Jahre ist es her, dass das einst dienstälteste Kernkraftwerk der Republik abgeschaltet wurde. Die erste Erkenntnis am 10. Jahrestag: Das KWO ist immer noch da. Äußerlich hat sich seit jenem 11. Mai 2005, als kurz vor acht Uhr die Lichter – zumindest sinnbildlich – im Obrigheimer Atommeiler ausgingen, kaum etwas verändert. Und doch: Ein Jahrzehnt nach Abschaltung sind die Tage der kerntechnischen Anlage gezählt, man ist längst in der zweiten Halbzeit des Rückbaus, in weiten Teilen gleicht das Kraftwerk einem Hohlkörper. Mit – notwendigerweise – unversehrter Hülle, wohlgemerkt.
Hintergrund
In der annähernd 37 Jahre langen Betriebszeit des Reaktors lieferte das KWO rund 86.000 Gigawattstunden Strom, laut Bundesamt für Strahlenschutz traten in dieser Zeit 267 meldepflichtige Ereignisse auf.
Nach dem
In der annähernd 37 Jahre langen Betriebszeit des Reaktors lieferte das KWO rund 86.000 Gigawattstunden Strom, laut Bundesamt für Strahlenschutz traten in dieser Zeit 267 meldepflichtige Ereignisse auf.
Nach dem Atomkonsens 2000 hätte das KWO bereits 2002 abgeschaltet werden sollen. Durch die Übertragung von Reststrommengen anderer EnBW-Anlagen wurde die Laufzeit bis Mai 2005 ausgedehnt.
Proteste, Einsprüche und Klagen gegen das KWO gab es immer wieder: Zuletzt klagte die BI "AtomErbe" Obrigheim gegen die Erteilung der 2. Abbaugenehmigung.
Im Mai 2015 befindet man sich in der heißen Phase des Abbaus, seit geraumer Zeit wird das eigentliche Herzstück der Anlage zerlegt.
Wenn man so will, ist das KWO so etwas wie ein Paradoxon: Erst war es ein Auslaufmodell, dann plötzlich seiner Zeit voraus. Während der annähernd 37 Betriebsjahre lieferte es immer wieder Anlass zu kontroversen Diskussionen. Um dann mit seiner Abschaltung dem endgültigen Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland (im Anschluss an die Katastrophe von Fukushima 2011) noch zuvorzukommen.
Denn vom kompletten Ausstieg konnte man 2005 trotz Atomkonsens – in dessen Rahmen nach Stade (2003) Obrigheim als zweites Kernkraftwerk in Deutschland abgeschaltet wurde – nicht ausgehen. Der Atommeiler in Obrigheim, vom damaligen Bundesumweltminister Jürgen Trittin als "Methusalem der deutschen Atomkraftwerke" bezeichnet, wurde stillgelegt; zugleich aber eine Verlängerung der Restlaufzeiten für die verbliebenen Anlagen forciert. Nach dem Regierungswechsel wurde dann tatsächlich der eigentliche Konsens stillgelegt, die Atomkraft schien in Deutschland wie᠆der eine Zukunft zu haben. Bis die Gegenwart sie am 11. März 2011 mit der Katastrophe von Fukushima einholte.
Hintergrund
> 11. Mai 2005: Um 7.57 Uhr wird der Leistungsbetrieb des KWO nach nanähernd 37 Jahren am Netz eingestellt. Im Dezember 2004 hatte man den Antrag auf Erteilung der 1. Stilllegungs- und Abbaugenehmigung (1. SAG) gestellt, im April 2005 zudem einen ersten
> 11. Mai 2005: Um 7.57 Uhr wird der Leistungsbetrieb des KWO nach nanähernd 37 Jahren am Netz eingestellt. Im Dezember 2004 hatte man den Antrag auf Erteilung der 1. Stilllegungs- und Abbaugenehmigung (1. SAG) gestellt, im April 2005 zudem einen ersten Antrag für ein Standort-Zwischenlager für die 342 in der Anlage befindlichen Brennelemente.
> Juni 2006: Öffentliche Bekanntmachung/Auslegung der Unterlagen zum Rückbau des Kraftwerks.
> Oktober 2006: Die EnBW stellt fest, dass es keine Erörterung geben wird, da keine Einwendungen eingegangen waren.
> März 2007: Die letzten Brennelemente aus Betriebszeiten werden aus dem Reaktor in ein wasserabgeschirmtes Zwischenlagerbecken (sog. Nasslager) verbracht.
> Oktober 2007: Der Antrag für die Errichtung einen Zwischenlagers am Standort wird noch einmal modifiziert bveim Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) eingereicht (nochmalige Modifikation im Dez. 2011).
> August 2008: Erteilung der 1. Stilllegungs- und Abbaugenehmigung mit Demontagearbeiten v.a. im Maschinenhaus.
> Oktober 2008: In unmittelbarer Nachbarschaft des KWO geht nach elfmonatiger Bauzeit ein neues Biomasseheizkraftwerk in Betrieb.
> Dezember 2008: Antrag auf Erteilung der 2. SAG.
> März 2010: Antrag auf Erteilung der 3. Abbaugenehmigung (3. AG)
> Oktober 2011: Genehmigung des 2. Abbauschritts mit folgendem Abbau von Anlagenteilen v.a. im Reaktorgebäude (z.B. Dampferzeuger).
> Juli 2012: Öffentlichkeitsbeteiligung zum 3. Rückbauschritt im KWO-Infocenter.
> April 2013: Genehmigung des 3. Abbauschritts mit folgendem/laufendem Abbau des Anlagenkerns (z.B. Reaktordruckbehälter).
> Dezember 2013: Antrag auf Überführung/Einlagerung der KWO-Brennelemente im bereits bestehenden Zwischenlager des Kernkraftwerks Neckarwestheim (GKN).
> Mai 2015: Der Antrag für den vierten Abbauschritt befindet sich in Vorbereitung.
> 2023: Geplanter Abschluss der Rückbaumaßnahmen. Anschließend eventuelle Nachnutzung von Bestandsgebäuden.
Von einer "Katastrophe" hatte übrigens auch Obrigheims ehemaliger Bürgermeister Roland Lauer am Tag der Abschaltung des KWO gesprochen. Er forderte Hilfe ein für den Energiestandort Obrigheim, beklagte stilllegungsbedingte 2 Mio. Steuermindereinnahmen und den Verlust von mehreren Hundert Arbeitsplätzen. "Es wurde nicht so, wie zunächst befürchtet", sagte Lauer dieser Tage in einem Interview rückblickend, etwa durch Neuansiedlungen habe man vieles auffangen können. Auch ein Gutteil der Arbeitsplätze am KWO ist zumindest für die Dauer des Rückbaus geblieben. 2005 waren es 300, heute sind es 170. "Der größte Gewerbesteuerzahler", erklärt Lauers Nachfolger Achim Walter, "ist aber natürlich weggefallen." Das Kraftwerk ist eben nicht mehr in Betrieb. Gemeinsam mit der EnBW wolle man eine Nachfolgenutzung entwickeln, auch um wieder neue Arbeitsplätze zu generieren. Gespräche gab und gebe es, konkrete Überlegungen aber noch nicht.
Noch einmal zurück zum Abschaltungsmorgen: Von einer "Stimmung wie auf dem Friedhof", berichtete der damalige Betriebsratsvorsitzende des KWO. Überzeugt davon, dass man in Deutschland wieder in die Kernenergie einsteigen werde, war er dennoch. Sogar eine (spätere) Wiederinbetriebnahme des Obrigheimer Druckwasserreak᠆tors schien für manchen eine Option. Zumal man am Neckar ja durchaus Rückkehr-Erfahrungen hatte: 1990 hatte Betreiber EnBW das KWO mangels fehlender Dauerbetriebsgenehmigung bereits für ein Jahr vom Netz nehmen müssen.
Ein KWO-Comeback gab’s bekanntlich nicht, die Abschaltung war endgültig. Weitsicht bewies demnach der heutige Ministerpräsident und damalige Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag, Winfried Kretschmann. "Die Abschaltung ist ein Wendepunkt in der Energiepolitik Deutschlands", hatte er im Mai 2005 bekundet, während sein Vor-Vorgänger Oettinger damals mit Blick auf das Aus von Obrigheim von einer "falschen Entscheidung" gesprochen hatte.
Den Atomkraft᠆gegnern waren derlei Einschätzungen egal. Für Christine Denz, Dr. Walter Sieber, Simone Heitz und Gertrud Patan und weitere Mitglieder der Bürgerinitiative "Obrigheim abschalten" war der 11. Mai 2005 ein bedeutender Tag. Wenngleich Christine Denz heute sagt: "Die Abschaltung war nur ein Aspekt. Viel wichtiger war ein nachhaltiges Umschalten". Mit ihren Protesten und ihrem Kampf gegen die Atomenergie im Allgemeinen, den Betrieb des alten Meilers Obrigheim im Speziellen und dem (erfolgreichen) Werben für alternative Energieformen habe man das Bewusstsein der Bürger für die Notwendigkeit eines Umstiegs geschärft, für mehr Öffentlichkeitsbeteiligung gesorgt. Und auch nach der Stilllegung schaut man weiter kritisch hin. Die BI heißt inzwischen "AtomErbe" Obrigheim, in den voranschreitenden Rückbauprozess am KWO hat man sich mehrfach eingemischt, auf potenzielle Gefahren und mögliche Missstände hingewiesen. "Das werden wir auch weiter tun", verspricht Christine Denz. Denn den Abbau des KWO sieht man ein Stück weit auch als "Blaupause" für noch folgende Rückbauprojekte im ganzen Land.



