Mosbach

Friedensforscher erklärt Hintergründe des Ukraine-Krieges

Der Mosbacher Friedensforscher Dr. Hans Günter Brauch im RNZ-Gespräch. "Am wichtigsten ist es, den Menschen zu helfen!".

06.03.2022 UPDATE: 07.03.2022 06:00 Uhr 5 Minuten, 20 Sekunden
Plakate zum Krieg in der Ukraine und zur Coronakrise waren zu sehen. Foto: Pfeifer

Von Frank Heuß

Mosbach/Cuernavaca. Mit dem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine am 24. Februar begann ein Angriffskrieg mitten in Europa. Überall sind die Menschen in Sorge. Szenarien eines dritten Weltkrieges, gar unter Einsatz von Nuklearwaffen, verbreiten Schrecken. Die RNZ hat darüber mit Privatdozent Dr. Hans Günter Brauch gesprochen, der u. a. an den US-amerikanischen Eliteuniversitäten Harvard und Stanford tätig war und an der Freien Universität Berlin lehrte. Derzeit hält sich der aus Reichenbuch stammende Friedensforscher in Cuernavaca (Mexiko) auf.

Im Ukraine-Konflikt sieht der Mosbacher Friedensforscher Dr. Hans Günter Brauch nun vor allem „stille Diplomatie“ gefragt – und China in einer entscheidenden Rolle. Foto: Frank Heuß

Herr Dr. Brauch, als russische Truppen rund um die ukrainische Grenze zusammengezogen wurden, kamen schon schlimme Befürchtungen auf. Haben Sie geahnt, dass es zum Angriff auf die ganze Ukraine kommen würde?

Nein. Ich hatte die Hoffnung, dass es zu keinem großen Krieg kommt. Die Truppenkonzentration konnte man schon seit Ende des Jahres 2021 sehen. Dass etwas "im Busch" ist, war klar. Aber dass die Absicht besteht, die Souveränität der Ukraine komplett zu verletzen, davon ist, glaube ich, auch in der Nato kaum jemand ausgegangen. Ich habe gehofft, die Diplomatie könnte noch einiges abwenden. Sie ist gescheitert, weil die russische Führung das Angriffsziel bereits hatte, die gesamte Ukraine zu besetzen.

Wladimir Putin ist bisher eher als rational denkender Politiker bekannt gewesen. Ein gebildeter Mensch, der strategisch und überlegt agiert. Wie passt das zu seinem jetzigen Handeln?

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Ich bin kein "Putin-Kenner". Ich kann insofern nur spekulieren und mir Gedanken machen mit Blick auf die letzten 30 Jahre, was in der Russlandpolitik des Westens schiefgelaufen ist.

Als sich 1989 das Ende des Warschauer Paktes abzeichnete, hatten wir auch in Mosbach zwei größere Tagungen. Im Dezember 1989 nahmen vier Vertreter der damaligen Sowjetunion teil, davon zwei aus dem Außenministerium. Wir hatten sehr intensive, vertrauliche Gespräche in meiner Bibliothek. Es waren auch führende Amerikaner da, sowie Botschafter und Militärs aus mehreren europäischen Ländern. Es saßen fast 20 Leute zusammen. Im November 1991 hatten wir die zweite Tagung, in der es u. a. um Rüstungskontrolle ging. Da war auch ein sowjetischer Delegationsleiter für bedeutsame Abrüstungsgespräche dabei. Es war ein sehr vertrauensvoller Dialog.

Was ist in der Folge falsch gelaufen?

Wie man Russland langfristig in die europäische Sicherheitsordnung mit einbindet, darüber gab es keine langfristige Perspektive und meines Erachtens viele verpasste Gelegenheiten. Zwischen 1990 und etwa 1996 wurden mehrere Abrüstungsverträge geschlossen. Später wurden einige Verträge durch die USA aufgekündigt, um keine Beschränkungen bei den eigenen Rüstungen mehr zu haben. Das waren alles keine vertrauensbildenden Maßnahmen. Die Auswirkungen insbesondere der Trump-Administration in den USA auf Russland waren katastrophal.

Die Nato-Osterweiterung fand zwischen 1999 und 2020 in Etappen statt. Putin wollte ja sogar selbst einmal in die Nato eintreten. Die Möglichkeit einer europäischen Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok blieb ungenutzt. Viele Signale sind nicht aufgegriffen worden.

Sie haben viele Staatsmänner erlebt, die sich im Laufe ihrer Amtszeit verändert haben. Wie schätzen Sie die Widersprüchlichkeit ein, die Putin in seinem Auftreten momentan vermittelt?

Ich habe ihn nicht persönlich kennengelernt und bin kein Psychologe. Ich kann nur Veränderungen beobachten. Putin hat einen autoritären Staat geschaffen, der auf ihn zugeschnitten ist. Man sieht, dass es Etappen der Veränderung gab. Es begann 2008 mit dem Konflikt in Georgien, wo die Nato-Mitgliedschaft von einigen in Aussicht gestellt worden war, bis Russland eingriff. Ähnlich ist es in der Ukraine bei der Maidan-Revolution 2014 gewesen. Allen Nato-Staaten war aber klar, dass wenn die Ukraine Mitglied würde, ein Bündnisfall mit Pflicht zu militärischer Unterstützung entstehen könnte. Also haben damals viele gezögert. Man hat aber Hoffnungen geweckt, statt realistisch zu sagen, dass es das nicht geben wird. Eine EU-Mitgliedschaft wurde diskutiert, aber den "großen Brocken", auch vom inneren Zustand der Ukraine her, traute sich die EU nicht zu.

Später kam der überstürzte Abzug aus Afghanistan. Das war ein Signal, wie Zusagen aus dem Westen zu interpretieren sind. Man hatte schon gesehen, wie die Krim annektiert wurde. Es war ein Völkerrechtsbruch von russischer Seite. Ein Präzedenzfall. Militärisches Eingreifen kam nicht in Frage, da es zu gefährlich gewesen wäre. Ob die Ukraine insgesamt nun ebenfalls zum russischen Staatsgebiet gemacht werden soll, weiß man noch nicht. Es waren aber alles kleine Signale, durch die in Moskau offenbar angenommen wurde, es kommen zwar ökonomische Sanktionen, aber nach einer Zeit wird alles so wie bisher. Glaubwürdigkeit ist hier jetzt gefragt.

Wie vermuten Sie, dass der Konflikt sich weiter entwickeln wird, und wie sollte die westliche Politik handeln?

Das Wichtigste ist jetzt, den Menschen zu helfen! Da hat die Bundesregierung schnell reagiert, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Das Erste ist ein Waffenstillstand. Eine völlige Einstellung der Kampfhandlungen. Notwendig ist Vermittlung, vor allem "stille Diplomatie". Putin hört nicht auf viele, wenn er überhaupt noch auf jemanden hört. Am ehesten eine Chance hätte China.

Welche Rolle könnte China spielen? Steht zu befürchten, dass sich hier ein neuer Block bildet?

Der hat sich schon gebildet. Amerikas Administration hat bereits ein Hauptziel in der Eindämmung des Einflusses Chinas und Russlands definiert. Das hat dazu beigetragen, dass diese beiden sich noch näher sind. Russland ist Juniorpartner, China großer Wirtschaftsfaktor. Wegen China hat Russland vor den Sanktionen nicht so große Angst. China ist aber selbst gefährdet, wenn der Welthandel in eine schwere Krise gerät, was nicht auszuschließen ist. Der Westen würde das immens spüren, da viele Produkte ohne Zulieferung nicht hergestellt werden können. Chinas Verhalten war bisher ambivalent, im Sicherheitsrat und in der UNO-Vollversammlung hat man sich enthalten.

Wie schätzen Sie die Gefahr eines "Flächenbrandes", einer Konfrontation mit der Nato bis hin zum Nuklearkrieg ein?

Es fragt sich, was Putin noch zum Einlenken bewegen könnte. Zwingen lässt er sich nicht. Ich würde Altkanzlerin Angela Merkel als Sonderbotschafterin ins Gespräch bringen. Sie kennt alle Akteure, sie kann mit allen reden und kann deutlich machen, was Chinas Schweigen für die Zukunft von Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen bedeuten könnte. Das müsste in vertraulicher Diplomatie ohne Öffentlichkeit geschehen. Deutschland muss versuchen, wichtige Drähte, die zu den Konfliktparteien bestehen, zu nutzen. Wir brauchen in dieser Zeit ein Höchstmaß an Besonnenheit!

Ich glaube, dass Putin nicht völlig irrational ist. Die militärische Führung Russlands auch nicht. Von daher gehe ich davon aus, dass man die Gefahr einer Kettenreaktion sieht, die zu einem Nuklearkrieg führen könnte. Das wäre dann der Fall, wenn Nato-Gebiet angegriffen würde, was ich aber nicht glaube. Der direkte Draht zwischen Putin und US-Präsident Joe Biden wurde bereits aktiviert.

Sind wir am 24. Februar wirklich "in einer neuen Welt" aufgewacht, wie es Bundesaußenministerin Annalena Baerbock beschrieb?

Ja, wir sind in eine neue Welt gekommen. Ich war fast wie gelähmt, als ich hier im mexikanischen Fernsehen die Nachrichten sah. Ich habe ein laufendes Buchprojekt sofort gestoppt, weil sich die Rahmenbedingungen auf einen Schlag völlig verändert haben. Es ist eine weltweite "Megakrise" entstanden. Wir haben auch noch eine ungelöste Pandemie. Und der neueste Sachstandsbericht der UN zum Klimawandel zeigt dramatische Ergebnisse. Der Hunger der Ärmsten wird weiter zunehmen. Russland und die Ukraine gehören zu den größten Weizen- und Maisexporteuren. Länder in Afrika, die schwere Dürren erleben, benötigen bald viel mehr Devisen, um das aufzufangen.

Wie fühlen Sie sich selbst mit Blick auf die internationale Friedenspolitik, für die Sie über Jahrzehnte gearbeitet haben? Es wird ja jetzt wieder von Auf- statt von Abrüstung gesprochen ...

In meinem unterbrochenen Buchprojekt geht es darum, wie man ökologische Friedenspolitik gestalten kann. Der sicherheitspolitische Bereich wird jetzt darin auch wieder mehr einbezogen werden. Die Vielfalt der Herausforderung muss in breiter Perspektive einbezogen werden. Die Aufrüstung alleine wird die Probleme der Sicherheit in Europa und in der Welt nicht lösen. Die Wissenschaft muss viel stärker versuchen, ein Gesamtbild der Komplexität der Welt zu geben.

Es wird Jahre, Jahrzehnte dauern, Vertrauen wieder aufzubauen, das Putin total ruiniert hat. Wir brauchen aber weiterhin den Dialog, der vertrauensvoll sein muss, damit man ihn führen kann.

Überall in Deutschland finden "Mahnwachen" und Demonstrationen für den Frieden statt. Ergeben die Sinn?

Es ist immens wichtig. Alle demokratischen Parteien und deren Jugendorganisationen sollten hier zusammenarbeiten. Es geht um den Frieden auf unserem Kontinent und auch in Deutschland. Man muss in so einer Situation zusammenhalten und es gibt eine große Hilfsbereitschaft für die Flüchtlinge. Das ist sehr, sehr wichtig, weil es unsere Betroffenheit zeigt. Wir dürfen nicht vergessen, dass im Zweiten Weltkrieg acht Millionen Ukrainer als Teil der Sowjetunion gestorben sind. Solidarität kann Vertrauen aufbauen, das wir dringend brauchen.

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