Flüchtling wegen versuchten Mordes vor Heidelberger Jugendkammer
Angeblich wollte er sich gegen Angriff wehren

In dieser Flüchtlingsunterkunft in Walldorf kam es zu der Tat. Foto: Pfeifer
Von Willi Berg
Heidelberg/Walldorf. Ein Flüchtling aus Gambia muss sich seit Donnerstag wegen versuchten Mordes vor der Heidelberger Jugendkammer verantworten. Der zur Tatzeit 19-Jährige soll im September 2016 auf einen gleichaltrigen Mitbewohner eingestochen haben. Beide lebten damals in einem Zimmer in einer Gemeinschaftsunterkunft in Walldorf. Doch die zwei Landsleute konnten offenbar nicht gut miteinander.
Es habe mehrfach Streit mit dem Angeklagten gegeben, berichtete das mutmaßliche Opfer gestern vor Gericht. Ein Grund: "Nach dem Kochen machte er nicht sauber." Im gemeinsamen Zimmer habe es "gestunken", wenn der Angeklagte vom Fußballspielen kam. Dieser habe sich geweigert, die muffigen Schuhe vor die Tür zu stellen.
Am Abend des 19. September habe er eigentlich schlafen wollen, berichtete der junge Mann weiter. Doch erneut sei es zu einem Disput mit dem Zimmergenossen gekommen. Als er deshalb weggehen wollte, habe der Angeklagte ihn plötzlich von hinten in den Rücken gestochen und gedroht, ihn umzubringen. Eine weitere Messerattacke habe er abwehren können.
Der kraftvoll geführte Stich hätte "ohne Weiteres" zur Tötung des Opfers führen können, sagte Oberstaatsanwalt Florian Pistor. Der heute 20-Jährige hatte großes Glück, da keine lebenswichtigen Organe oder Blutgefäße verletzt wurden. Doch seelisch setzt ihm das Ganze offenbar bis heute zu. Er habe Angst und finde keine Ruhe. Was passiert sei, sehe er immer wieder vor sich. Mittlerweile wohnt er an einem anderen Ort.
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Der Angeklagte bestreitet die Vorwürfe und erzählt seinerseits eine ganz andere Geschichte. Folgt man seiner Aussage, wurde zuerst er angegriffen. An jenem Abend habe er ein Bier in den gemeinsamen Kühlschrank stellen wollen. Doch sein Mitbewohner habe dies untersagt, worauf es zu einer Rangelei gekommen sei.
Er sei zu Boden geschlagen und mit einer Eisenstange attackiert worden, behauptete der Angeklagte. Er habe dann ein Messer ergriffen und einmal auf seinen Kontrahenten eingestochen. Das geht aus einer Erklärung hervor, die von Verteidiger Jörg Becker gestern verlesen wurde. Sein Mandant habe in seinem noch jungen Leben bereits schreckliche Dinge erlebt, wie gestern weiter zu hören war.
Als er sechs Jahre alt war, sei der Vater von Rebellen ermordet worden, schilderte der Angeklagte. Eine Schule habe er nur kurz besucht; Schreiben kann er nicht. Einige Jahre später sei auch die Mutter gestorben. Für ihn und seinen Zwillingsbruder sei eine jahrelange Odyssee durch mehrere afrikanische Länder gefolgt: "Es war sehr schwierig zu überleben". Auf der Flucht durch die Sahara sei der schwer kranke Bruder im Alter von 14 Jahren gestorben. Bei der zweitägigen Überfahrt über das Mittelmeer von Libyen nach Italien seien 16 Flüchtlinge ums Leben gekommen.
Jetzt sitzt der junge Mann in Untersuchungshaft im Jugendgefängnis Adelsheim. Dadurch könnte sich seine Hoffnung erfüllen, endlich etwas zu lernen. Der 20-Jährige möchte eine Ausbildung machen. Momentan arbeitet er im Metallbereich an einer Drehmaschine. Der Angeklagte sei motiviert, wissbegierig und fleißig, heißt es in einem Bericht der Haftanstalt. Er habe sich gut eingefügt, mit anderen Häftlingen gebe es keine Probleme.
Für den Prozess sind drei Tage anberaumt. Ein Urteil soll am 16. März verkündet werden.