Die Straßen im Jungbusch sind Bühne und Experimentierlabor
Theaterpädagogin Lisa Massetti arbeitet mit Jugendlichen im Jungbusch - Sie passt Schiller-Stücke an die Realität des Viertels an

Lisa Massetti lebt seit 20 Jahren in Mannheim und hat vor allem den Jungbusch und seine Bewohner ins Herz geschlossen. Foto: Porz
Von Sarah Porz
Mannheim. Die Schauspieler ziehen durch die Straßen, das Publikum zieht mit, als Bühne dienen Hinterhöfe, Gärten und die Hafenpromenade. Beim Sidewalk Theater von Creative Factory wird der Jungbusch zur Theaterkulisse. Lisa Massetti, Regisseurin und Leiterin, hat diese Art der Bühne bewusst gewählt. "Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg kommen", erklärt sie. Denn Massetti möchte den Bewohnern des Jungbusch das Theater vor die Tür bringen. "Theater ist eine Sprache, die jeden erreichen kann", ist sie überzeugt.
Nachdem sie in Italien die Theaterschule besucht und Theaterpädagogik studiert hatte, nahm sie viele künstlerische Projekte in Schulen oder in Gefängnissen an, um finanziell über die Runden zu kommen. Eins davon war in einer geschlossenen Psychiatrie. "Die Menschen dort hatten das Gebäude seit 30 Jahren nicht verlassen und schienen ihren Lebenswillen verloren zu haben. Tagein, tagaus erlebten sie einen eintönigen Alltag und wippten nur vor und zurück", beschreibt Lisa Massetti. Doch es gelang ihr, zu den Insassen einen kreativen Zugang zu finden. Die Patienten bastelten, musizierten, und 15 von ihnen schafften es sogar auf die Bühne. Da wusste die Theaterpädagogin, dass sie das Theater vor allem zu Menschen bringen wollte, die nicht privilegiert genug schienen, sich Theaterkarten zu kaufen.
Dennoch war die Gründung ihrer Jugendgruppe im Jungbusch eher ein glücklicher Zufall. "Nach Mannheim kam ich vor 20 Jahren wegen der Liebe, und war nicht sicher, ob ich bleiben würde", erzählt Massetti. Zunächst ging sie immer wieder zurück nach Italien. Mannheim schloss sie ins Herz, als sie den Jungbusch kennenlernte. Dort erhielt sie auch eine Gelegenheit, theaterpädagogisch zu arbeiten. Michael Scheuermann, der Geschäftsführer des Gemeinschaftszentrums Jungbusch, plante mit innovativen Projekten, mehr in Jugendarbeit zu investieren. In ihrer neuen Stelle arbeitete sie zunächst mit italienischen Jugendlichen. Anfang der 2000er Jahre rief die Italienerin das Projekt Creative Factory ins Leben. Seit über 15 Jahren arbeitet Lisa Massetti mit Menschen im Alter von 17 bis 30 - heute sogar in zwei Gruppen, einer Mädchen- und einer gemischten Gruppe von jungen Erwachsenen. Die meisten Teilnehmer haben einen Migrationshintergrund. "Creative Factory oder Laboratorio Teatrale, wie es auf Italienisch heißt, ist wie ein Labor, in dem Künstler gemeinsam forschen", erklärt Lisa Massetti.
Die Jugendlichen in der Gruppe sind wesentlich am kreativen Prozess beteiligt, auch wenn es um den Inhalt der Theaterstücke geht. Massetti bringt die Themen des Stückes mit, aber die Jugendlichen diskutieren darüber, machen Improvisationstheater und bringen ihre eigenen Gedanken sowie ihr eigenes Leben mit ein. Im Anschluss schreibt Massetti die Stücke. Diese orientieren sich an den Werken von Friedrich Schiller, der sie seit den Schillertagen des Nationaltheaters 2003 begeistert. "Schiller spricht von Themen, die grenzenlos sind - über Freiheit, Generationenkonflikte und Intrigen", so Massetti. Sie schreibt die Stücke so um, dass sie die Realität im Jungbusch widerspiegeln. Ein Beispiel dafür ist das letztgespielte Stück "Feuerbrand" aus 2017.
Auch interessant
Es handelt von der Gentrifizierung, die auch vor dem Multikulti-Viertel nicht Halt macht. Immer mehr Menschen müssen den Jungbusch verlassen, weil die Mieten steigen werden. "Die Leute beginnen nach dem Stück, sich deutlicher mit den Themen auseinanderzusetzen, und es findet Integration auf offener Straße statt", erklärt Massetti. Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass es nicht einfach ist, sich in ein fremdes Land und dessen Kultur zu integrieren. Daher will sie den Jugendlichen bei Creative Factory einen Platz geben, wo sie kreativ sein können, Verantwortung übernehmen und das Wir-Gefühl gestärkt wird.
Aktuell sucht sie mit ihrer Gruppe nach einem neuen Stück. Alle zwei Jahre stellt Creative Factory eine große Produktion auf die Beine, aber zwischendurch werden immer wieder kleinere Projekte realisiert, beispielsweise in Kooperation mit der Popakademie oder der Orientalischen Musikakademie. Beim diesjährigen Nachtwandel waren sie auch beteiligt. "Man muss immer aktiv bleiben", findet Lisa Massetti, der das kreative Forschen mit Jugendlichen nach wie vor großen Spaß bereitet.
Gerade kürzlich startete Creative Factory ein schauspielerisches Experiment zum Thema Respekt, bei dem sie 15 Minuten einen Konflikt auf einem Spielplatz inszenierten. Nachdem der Moderator der Gruppe, die Leute, die stehen geblieben waren, nach ihrer Meinung fragte, waren viele verwundert, dass die Situation nur gespielt war, diskutierten aber mit. Bei einem zweiten Versuch gingen die Menschen einfach weiter. Mehr Aktionen dieser Art sind trotzdem geplant. Lisa Massetti ist etwas in Sorge, denn ihrer Meinung nach versinken viele Jugendliche zunehmend im virtuellen Raum. Auch über die Zukunft des Szene-Kiezes macht sie sich Gedanken. Aber Massetti ist sich sicher, dass "der Busch" gerade dann eine Extraportion Kreativität und Theater braucht.