Mannheim

35.000 machten Jungbusch beim Nachtwandel zur Partymeile (plus Fotogalerie)

Bewohner entfalten ihre Kreativität - Ausstellungen, Konzerte und Lesungen

27.10.2019 UPDATE: 27.10.2019 15:40 Uhr 2 Minuten, 34 Sekunden

Epizentrum des Stadtteilfests ist die Jungbuschstraße mit ihren Kneipen und Bars. Foto: Gerold

Von Marco Partner

Mannheim. Für zwei Mädels in der Kirchenstraße ist es ein Katzensprung. Kaum aus der Wohnungstür raus, sind sie quasi schon mittendrin. In Stern Numero 61, eine von 70 Stationen des diesjährigen Nachtwandel-Kosmos im Stadtteil Jungbusch. "Mal sehen, was die so machen", sagen sie noch auf dem Hausflur, da schallt ihnen bereits eine zarte, smarte Stimme entgegen. T.L. Mazumdar stand schon gemeinsam mit Nelly Furtado auf der Bühne. Jetzt sitzt der junge Sänger in einem kleinen, schnuckligen Zimmer. Bei weit geöffnetem Fenster stimmt er die Besucher mit seiner Prachtstimme auf die 15. Auflage von Mannheims Kultfestivals ein.

Während sich die Jungbusch-, Beil- und Böckstraße mit ihren zahlreichen Bars, Kneipen und verlockenden Innenhöfen am Freitag- und Samstagabend zu später Stunde in eine Partymeile verwandeln, führt wohl gerade die etwas an den Rand des Szeneviertels gedrängte Kirchenstraße am deutlichsten zu den Wurzeln des 2004 ins Leben gerufenen Nachtwandels zurück: Bewohner und Institutionen entfalten ihre Kreativität, öffnen Türen und Pforten - und schaffen inspirierende Begegnungen. Zwei Häuser weiter wird in der Hafenkirche rumänisch-bulgarische Folklore angestimmt, auf den Treppenstufen des Job-Centers sitzt eine junge Syrerin - und interpretiert Leonard Coen’s "Hallelujah" sanftmütig mit der Kastenzither.

Auch Claudia aus Brühl verweilt ein wenig bei den entlegenen Geheimtipps. "Es steckt so voller Abwechslung und besitzt eine sagenhafte Atmosphäre. Man kann richtig entspannt eine multikulturelle Welt durchschlendern", sagt die Mittfünfzigerin und wandelt weiter durch die noch junge Nacht. Die teilweise verwunschenen Innenhöfe sind in violettes und grünes Licht getaucht, auf den Straßen dampft und duftet es nach sizilianischer Salsiccia und orientalischen Leckereien.

Während die Werfstraße mit peruanischer Folklore und argentinischem Elektro-Punk-Rock stark südamerikanisch angehaucht ist, sind in der Böckstraße die Italiener tonangebend: Schmachtfetzen wie "Gloria" und "Felicita" werden in den Abendhimmel geschmettert und die überfüllte Straße zu 80er Retro-Beats in eine Tanzfläche verwandelt. Ein paar Schritte weiter donnern Rap- und Hip-Hop-Tunes aus einem kleinen, türkischen Supermarkt. Hier, wo Jungbusch-, Böck und Beilstraße und sämtliche Kulturen miteinander verschmelzen, ist man zweifelsohne im Epizentrum des Nachtwandels angelangt.

Auch interessant
"Nachtwandel" Mannheim: Jungbusch-Kulturfest droht Absage wegen Geldmangel

Der Nachtwandel hat sich zum großen Stadtteilfest gemausert: Circa 35.000 sind an beiden tagen unterwegs. Nachhaltigkeit ist diesmal Trumpf: Statt Dixie-Toiletten sind diesmal Holz-WCs aufgestellt, "gespült" wird mit Sägespänen. Die in Sammelboxen als Spende für das kostenlose Kulturfestival zurückgelassenen Nachtwandel-Becher sollen im nächsten Jahr wiederverwendet werden.

Überall ist etwas im "Busch". Die Hafenpromenade lädt mit kleinen Kunst-Galerie-Containern zum musischen Spaziergang ein. Selbst an der Haltestelle Rheinstraße werden aussteigende Fahrgäste von House- und Techno-Vibes begrüßt. In Mannheims einziger U-Bahn-Station Dalbergstraße wartet sogar eine kleine Live-Band auf die Nachtschwärmer.

Und die Mutigsten unter ihnen werden zu Teilnehmern: In der legendären Aral-Waschanlage werden weiße Leinwände von Klein und Groß mit Farbe bemalt und Songs wie "Que sera" oder "I Am What I Am" spontan einstudiert und im Rudel gesungen.

Auch Hauptorganisator Michael Scheuermann lauscht mit, ehe er die nächste Station abklappert. Ganze zwölf Monate nahmen die Vorbereitungen für das Kiez-Festival in Anspruch. Für den Quartiersmanager sind die spürbaren Nachwirkungen im einstigen Problemviertel daher vielleicht noch wichtiger als die belebten zwei Nächte. "Wir reden miteinander, es wird Vertrauen aufgebaut. Zwischen Nachbarn, Kulturen, zwischen Hauseigentümer und Mieter." Seit der allerersten Stunde ist auch die Yavuz-Sultan-Selim-Moschee fester Bestandteil des Programms. Nur der Luisenring trennt das islamische Gebetshaus von der Jugendkirche Samuel. Beim Nachtwandel sollen sich die beiden Gotteshäuser und Religionen bewusst näherkommen.

Ort des Geschehens

"Wir sind auch ein Teil Mannheims, wir wollen unsere Gastfreundlichkeit zeigen, jeder darf sich ein Bild machen", erklärt der Vorsitzende Ismail Hakki Cakir. Immer zur vollen Stunde heißt es Schuhe aus und eine Schar interessierter Besucher betritt die Gebetsräume. Ob er bei all den Führungen überhaupt etwas vom sonstigen Nachtwandel mitbekommt? "Na klar, wenn es hier ruhiger wird, ziehe auch ich los. Ich möchte wissen, was mein Nachbar macht", betont Cakir - und zeigt: Den Kern des kreativen Festivals haben die Bewohner auch nach 15 Jahren nicht vergessen. Und lassen ihn jedes Jahr aufs Neue aufleben.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.