Lichtmeile Mannheim

Kreativität in morbidem Charme

Gelungenes Kunstfestival: Dreitägige "Lichtmeile" lockte 15 000 Besucher in Cafés, Kneipen, Höfe und Galerien der Neckarstadt-West

18.11.2018 UPDATE: 19.11.2018 06:00 Uhr 2 Minuten, 37 Sekunden

Die Neckarstadt-West gibt einer ungezügelten, oft etwas schrägen Kunst-Szene passende Räume während der "Lichtmeile". Foto: vaf

Von Marco Partner

Mannheim. Im Alten Volksbad ist der Teufel los: Angetrieben vom wummernden Bass und Gitarrensound der Independent-Band "Euternase" drängt eine Besucherschar durch die einstige Bäderwelt. Skurrile Gemälde und Torso-Skulpturen verstecken sich hinter jeder Ecke der alten Duschkabinen. Schaurig-schön und ein wenig bizarr. Ein Stockwerk höher singen die "Böhmer Stadtmusikanten" in Bademäntel gekleidet Lieder aus den 1920er Jahren, im Raum nebenan flimmern Alltagsszenen aus dem Budapester U-Bahn-Leben auf der Leinwand. Kaum hat man den Fuß wieder vor die Tür gesetzt, trifft man auf eine tanzende Menschengruppe, die ausgelassen zu Electrobeats feiert.

Im Zentrum der "Lichtmeile" in der Mittelstraße spiegelt sich die ganze Vielfalt des dreitägigen Kulturfestivals in der Neckarstadt-West wider. Live-Musik und Kunstausstellungen gibt es auf über 30 Stationen zu entdecken, die Häuserfassaden sind wie gewohnt in violettes und grünes Licht getaucht. Das meiste aber spielt sich innen ab: In den Cafés, Kneipen und Galerien - und in den belebten Innenhöfen. Und eigentlich ist alles friedlich, gäbe es da nicht den Polizeieinsatz am Freitagabend.

Michael Weil besuchte die Lichtmeile das erste Mal vor drei Jahren. Und verliebte sich so sehr in das Viertel, dass er den alten Pferdestall in der Elfenstraße kaufte. Nach und nach wandelt er die zuletzt als Werkstatt genutzten Räume in seine Wohnstätte um - und öffnet an den kreativen Festtagen gerne die Pforten.

Rund um die Mittelstraße erstrahlte bunte Beleuchtung, dazu spielte vielerorts Musik. Foto: vaf

Backsteinwände, Holzbalken, alles reichlich rustikal, rau und unverputzt: Bei der Lichtmeile erhält man auch immer einen kleinen Einblick in die Wohnkultur des ehemaligen Arbeiterviertels - und der ehemalige Pferdestall kann jetzt schon als Klassiker bezeichnet werden.

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Denn es ist genau dieser morbide Charme, das Ungeschminkte, das die insgesamt rund 15.000 Besucher beim Streifzug durch die Neckarstadt suchen. "Das hier ist eine Queer-Go-Area", verrät Weil, gekleidet in Karohose, Weste und Hut. "Schwule und Lesben können in diesem Viertel sehr gut leben. Jetzt bin ich gespannt, wie viel Regenbogen das Fest verträgt", sagt der gebürtige Wormser und zeigt mit der berühmten Pace-Fahne Flagge. Von Weitem wirkt sie zunächst wie eine Deutschland-Fahne. Nicht gerade das Publikum, das die Lichtmeile anzieht. Kaum aber werden die Regenbogenfarben erkannt, tritt Erleichterung ein. Doch nicht alle trauen sich über die Hemmschwelle. Diejenigen, die es wagen, werden mit 80er-Jahre-Synthi-Klängen der Indie-Electro-Combo "Go Nogo", einer Ausstellung über "Mannheim bei Nacht" und am Sonntag mit einer Lesung belohnt.

Den umgekehrten Weg wie Weil ging Carlos. Der Mittsechziger lebte fast 40 Jahre in der Neckarstadt. Jetzt genießt er die Rente im Grünen. Zur Lichtmeile kehrt aber gerne in sein ehemaliges Quartier zurück. Einen Plan legt er sich vorher nicht zurecht. Sich einfach treiben lassen, lautet sein Motto. In einem geschmückten Innenhof in der Alphornstraße wartet er bei Glühwein und Girlanden auf die nächste Band. "Es ist mehr als einfach Essen und Trinken, kein Weihnachtsmarkt mit den immer gleichen Ständen. Die Akteure lassen sich jedes Jahr etwas Neues einfallen", erklärt er - und lässt sich von einer gigantischen Videoinstallation, die eine ganze Häuserfront einnimmt, verzaubern.

Nicht nur die Mittelstraße verwandelt sich bei den Neckarstädter Nächten in einen Melting-Pot der kreativen Szene. Auch in den Parallelstraßen erstrahlen bunte Farben, ertönt Musik. Im "Sasas"-Vintage-Laden in der Riedfeldstraße steigen hinter dem Schaufenster voller Secondhand-Pullis und Stiefel psychodelische Gitarrenriffs in den kalten Nachthimmel empor.

In der Langstraße nutzen Bewohner einfach den eigenen Balkon als Gesangsbühne - und bringen, von Cello und Klavier begleitet, einige Passanten zum Stehen und Applaudieren.

So auch Marlene und ihr Freund Luca, die sich vom Jungbusch aus "iwwa die Brick" in die Neckarstadt machen. "Es ist stressfreier und unaufgeregter. Es verläuft sich alles ein wenig, und man kann im Grunde sogar mehr entdecken", zieht sie einen Vergleich zum Nachtwandel.

Während beim großen Kulturfest-Bruder fast jeder Frisör, Gemüseladen und Pizzabäcker involviert ist, muss man bei der Lichtmeile weitere Wege auf sich nehmen. Dafür bleibt man aber auch von großen Menschentrauben verschont. Doch eines ist klar: Nicht alle Stationen können bei dem kulturellen Spaziergang erforscht werden. So bastelt sich jeder Besucher ein ganz eigenes, individuelles Lichtmeile-Puzzle zusammen. In einer, zwei - und manche auch an allen drei Nächten voller Musik, Kunst und Literatur.

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