Provokante Worte gab es schon immer
Deutsche Sprache verrohe nicht - Grad der gesellschaftlichen Diskussion gestiegen

Mannheim. (dpa-lsw) Trotz umstrittener Äußerungen von Politikern sieht der neue Chef des Instituts für Deutsche Sprache keine Verrohung der Sprache. Provokante Wortbildungen habe es schon immer gegeben - allerdings hätten sie nicht zu so intensiven gesellschaftlichen Diskussionen wie heute geführt, sagte der Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik, Henning Lobin, der Deutschen Presse-Agentur in Mannheim.
"Die Echokammer des Internets sorgt für Zuspitzung - eine Änderung der sprachlichen Kultur sehe ich aber nicht." Schon in den 1960er Jahren sei etwa der Begriff des Vaterlandsverräters gegen Linke angewendet worden. Damals hätten aber Kontrollmechanismen in den Printmedien eine breite Diskussion verhindert.
Hintergrund
Henning Lobin
Von bloßen Einschätzungen hält Henning Lobin nicht viel. Der neue Direktor des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim setzt auf Daten - und ist dafür bestens vorbereitet. Neben Philosophie und Germanistik studierte er Informatik. Die
Henning Lobin
Von bloßen Einschätzungen hält Henning Lobin nicht viel. Der neue Direktor des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim setzt auf Daten - und ist dafür bestens vorbereitet. Neben Philosophie und Germanistik studierte er Informatik. Die Digitalisierung ermöglicht es dem 54 Jahre alten Wissenschaftler, Text und Sprache zu erfassen, die Daten aufzubereiten, Analysen vorzunehmen und diese zu deuten. Nicht umsonst hat sein jüngstes Buch den Titel "Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache". Es behandelt die Folgen der Erforschung von Sprache durch digitale Verfahren.
Der schlanke hochgewachsene blonde Mann sieht sich als Wächter der Sprache. Nicht in dem Sinne, dass er sich für deren Reinheit einsetzt. Vielmehr fühlt er sich zuständig für die germanistische Sprachwissenschaft, die Pflege der Beziehungen unter den damit befassten Wissenschaftlern und dafür, dass die deutsche Sprache in der globalisierten Englisch sprechenden Welt nicht an Bedeutung verliert.
Der gebürtige Lüneburger wechselte aus Gießen in die Quadratestadt. An der dortigen Universität hatte er seit 1999 den Lehrstuhl für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik am Institut für Germanistik inne. Er war zugleich Vizepräsident der Universität.
Bei aller Orientierung an Daten hat Lobin auch eher altmodische Züge: Er schreibt und bekommt nach eigenem Bekunden gerne Postkarten, zuletzt schickte er seiner erwachsenen Tochter auf diesem Wege Grüße aus Sizilien. Mit seiner Frau schreibt er sich auch schon mal Briefe, wie er sagt. Übrigens ist Lobin ein Anhänger des "Genderns", berücksichtigt also beide Geschlechter im geschriebenen oder gesprochenen Wort.
FDP-Bundeschef Christian Lindner hatte jüngst eine Verrohung der Sprache kritisiert. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mahnte zu "Disziplin in der Sprache".
Das von Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) benutzte Wort "Asyltourismus" ist nach Ansicht des Sprachforschers Lobin eine unzulässige Verbindung von einer Notlage mit den positiven Vorstellungen, die Menschen vom Reisen haben. "Ich halte das für moralisch fragwürdig." Der vom CSU-Landesgruppenchef im Bundestag Alexander Dobrindt genutzte Begriff "Anti-Abschiebe-Industrie" sei hingegen nur eine Zuspitzung, die niemanden persönlich verletze. Beide Begriffe würde er selbst nicht gebrauchen.
Ziel solch brisanter Wortschöpfungen sei, die eigene Politik zu untermauern und die des politischen Gegners in ein schlechtes Licht zu stellen. Dabei gingen deren Erfinder aber ein hohes Risiko ein, über das Ziel hinauszuschießen. Das gelte insbesondere, wenn es sich um Begriffe aus dem bereits politisch aufgeladenen Themenkreis der Migration handele.
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Dabei bringe die AfD keine neue Qualität in den politischen Diskurs. "In Deutschland gab es immer wieder Phasen, in denen extreme Rechte oder Linke im Bundestag saßen und sich Beleidigungen und Zuspitzungen bedienten", erläuterte der Institutsdirektor. Die AfD arbeite "im neuen Gewande" mit solchen Provokationen - verbunden mit dem Streben, vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Sachverhalte zu präsentieren und dabei den "gesunden Menschenverstand" zu bemühen.
Der gebürtige Lüneburger leitet seit Anfang August die vom Bund und den Bundesländern, darunter Baden-Württemberg mit einem überdurchschnittlichen Anteil, finanzierte Einrichtung. Das Institut für Deutsche Spraceh besteht seit 1964 - dem Geburtsjahr von Lobin. Aufgaben der außeruniversitären Einrichtung sind die Erforschung und Dokumentation der deutschen Sprache in ihrem gegenwärtigen Gebrauch und in ihrer neueren Geschichte.