Von der Notunterkunft zum Sozial-Ghetto
Podiumsdiskussion über den Mythos der Benz-Baracken. Ehemalige Bewohnerin und Sozialarbeiterin erzählen

Von Marco Partner
Mannheim hat viele soziale Brennpunkte, kein Armutsviertel aber ist so bekannt wie die Benz-Baracken. Spätestens Frau Zehnbauers auf Youtube viral gegangener Polizeianruf machte das unmittelbar am Mercedes-Werk gelegene Siedlungsquartier überregional bekannt.
Heute hält eine zweifelhafte Doku-Seifenoper die Klischees um das Leben vieler Hartz-IV-Empfänger aufrecht. Das Viertel in Waldhof-Ost wird belächelt und gefürchtet. Dabei sind die ursprünglichen Baracken aus den 1920er-Jahren längt verschwunden. Ruf und Mythos aber sind geblieben, wie nun auch bei einer Podiumsdiskussion im Marchivum deutlich wurde.
Jutta K. ist noch in den "echten" Baracken geboren und aufgewachsen. Ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen. Auf engstem Raum wohnte sie in den 1960er- und 1970er-Jahren mit 17 Geschwistern im Hinteren Riedweg in einer spärlichen Unterkunft. "Wir haben immer zu zweit in einem Stockbett geschlafen und konnten uns nur an einem Waschbecken waschen. Aber ich hatte eine schöne Kindheit", betont sie. Fast 1000 Kinder sollen in dieser Zeit in den Notunterkünften gewohnt haben.
Die Geschichte der Benz-Baracken beginnt 1928, als die Äcker am Benz-Werk aufgrund des Wohnungsmangels besiedelt wurden. Auch viele Arbeiter zogen in die Behelfsbauten (zunächst aus Holz, dann aus Steinblöcken), um schnell und günstig ein Dach über dem Kopf zu haben. "Es sollte Druck von der Gesellschaft genommen werden, fast 19.000 Menschen waren damals in Mannheim obdachlos", erklärt Philipp Breitenreicher vom Marchivum.

Als in den Sechzigerjahren in der Nachbarschaft die ersten Einfamilienhäuser entstehen, schwappt vom sogenannten Wirtschaftswunder wenig in die stetig wachsende arme Siedlung. Einen Kindergarten gibt es nicht, dafür ab 1967 eine Spielstube, die auch Jutta K. besuchte – und in der Christa Krieger vom ersten Tag an arbeitete. "Die Kinder standen im Vordergrund, wir gingen in die Familien rein, versuchten aber auch, zwischen den Bewohnern zu vermitteln", erinnert sich die Sozialpädagogin. Streitereien, Gewalt, massive Kinderarmut, fehlende Perspektiven und auch frühe Tode prägten das slumartige Quartier. Und schon damals gab es eine Kluft: zwischen den Bessergestellten – "unn wir do unne." Jutta K. ist ihrer Erzieherin heute noch "unendlich dankbar", dass sie ohne Vorurteile behandelt und nicht abgelehnt wurde.
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Erst in der Schule, als sie zum ersten Mal raus aus dem Viertel muss, beginnt die Stigmatisierung. "Ich sollte mich auf einmal für meine soziale Herkunft schämen. Wenn es Läuse in der Schule gab, war ich gleich die Schuldige. Ich stand oft allein im Schulhof, es war keine schöne Zeit", sagt sie. Nach der sechsten Klasse kehrt sie der Schule den Rücken. Auch, weil sie ihrer Mutter im Haushalt und bei der Erziehung der vielen Geschwister unter die Arme greifen muss. "Es hat nie jemand nachgefragt, weder Lehrer, noch Eltern. Du wirst ja eh verheiratet, hat es geheißen." Nachdem die Familie von den "Bungalow-Baracken" in ein heute als für das Viertel typisch geltendes dreigeschossiges Laubenganghaus zieht, wird auch Jutta K. früh schwanger – und schafft es als 15-Jährige mit ihrem Mann raus aus dem Viertel. "Die Stadt war zuvor wie ein Ausland für mich. Ich musste mich erst zurechtfinden", sagt sie.
Das klappt zu Beginn nur bedingt. Zwei Ehen werden geschieden, dann findet die Frau aus den Benz-Baracken den Ansporn, ihren Hauptschulabschluss nachzuholen und sich als Altenpflegerin ausbilden zu lassen. "Egal, woher man kommt, jeder trifft auf Menschen, die einen weiterbringen können. Diese Chance muss man nutzen", sagt sie heute.
Die 21 Reihenhäuser der ersten Stunde sind inzwischen verschwunden. 1982 wurden die Baracken im Hinteren Riedweg abgerissen und machten Platz für einen Parkplatz. Der Mythos der Benz-Baracken aber lebt weiter und hat sich in der Siedlung mit wohlklingenden Straßennamen wie Frohe Zuversicht verfestigt. "Wir leben hier doch wie die anderen auch!", ist auf eine Hauswand gesprayt. Caritas, Biotopia und andere soziale Träger sind präsent. Um denen ganz unten die Chance auf Entwicklung zu geben.