Mannheim

Stolpersteine der "Leben, die hätten sein können" geputzt

Zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus nahmen die Sozialdemokraten in der Neckarstadt Schwamm und Wischlappen in die Hand.

27.01.2022 UPDATE: 28.01.2022 06:00 Uhr 2 Minuten, 32 Sekunden
„Er hat der Diktatur die Stirn gezeigt“, sagte SPD-Landtagsabgeordneter Stefan Fulst-Blei (links). Gemeinsam mit SPD-Bezirksbeiratssprecher Sascha Brüning reinigte er vor der Bonifatiuskirche den Stolperstein von Thaddäus Brunke. Foto: Gerold

Von Marco Partner

Verlegt werden sie meist mit größerem Aufsehen. Doch dann geraten sie unter den Füßen des Alltags oft wieder in Vergessenheit. Die Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig erinnern an das Schicksal der Menschen, die in der NS-Zeit verfolgt, deportiert oder ermordet wurden. Um sich aber ihr Leben wieder ins Gedächtnis zu rufen, nahmen SPD-Mitglieder am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am Donnerstag Schwamm und Wischlappen in die Hand, um die quadratischen Messingtafeln zu säubern.

"Hier wirkte Thaddäus Brunke. Verhaftet 1940. Ermordet am 5. August 1942 in Dachau": Vor der Bonifatiuskirche findet sich ein Stolperstein in Erinnerung an den Kaplan, der ein Jahrzehnt in der Neckarstadt-Ost wirkte. Die Oberfläche des 2010 eingesetzten Kubus scheint schon in den umliegenden Gehwegsteinen zu verschwinden und fällt zunächst kaum auf. Erst als Bezirksbeiratssprecher Sascha Brüning zum besonderen Reinigungsmittel (viel Essig, Wasser und eine Prise Salz) greift und gemeinsam mit dem Landtagsabgeordneten Stefan Fulst-Blei die Messingplatte schrubbt, wird die Inschrift wieder sichtbar. "Es ist ein trauriger Anlass, aber ein wertvoller. Auf jedem Stolperstein sind Leben abgebildet, die hätten sein können, aber nicht mehr sein durften", betont Brünig.

Geboren wurde Thaddäus Brunke in Harburg an der Elbe. Nach seinem Theologiestudium nahm er 1930 in Mannheim seine erste Priesterstelle an und betreute auch die Jugendarbeit im Stadtteil Wohlgelegen. 1939 wurde er zum Vorsteher des Klosters auf dem Fuldaer Frauenberg ernannt und war dort auch für die Lebensmittel-Versorgung zuständig. Durch ein Gesetz der Nationalsozialisten aber stellten die Spenden der Landwirte plötzlich ein Verbot dar.

Befreundete Bauern brachten dennoch Nahrung, bis die Gestapo-Razzia alles beschlagnahmte. Brunke gab sich als Alleinverantwortlicher für die Hortung der Lebensmittel aus. "Er hat der Diktatur die Stirn gezeigt", sagt Fulst-Blei – und legt eine rote Rose sowie eine Kerze nieder. Am 14. Dezember 1940 wurde der Priester verhaftet. Neben den vermeintlichen Verstößen im Kloster wurde ihm vorgeworfen, in Mannheim der katholischen Jugend das Vertrauen in die politische Führung untergraben zu haben. Nach über einem Jahr im KZ Dachau erlitt er 1942 zwei Schlaganfälle und starb im Alter von 39 Jahren.

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Fast 200 Stolpersteine gibt es in Mannheim. Die Mehrzahl (135 Steine) erinnert an jüdische Opfer und Verfolgte. "Ob Christen, Juden, Homosexuelle oder Andersdenkende: Sie waren alle mal Nachbarn. Uns als Ortsverein ist es wichtig, dass unser Stadtteil weiterhin so vielfältig und offen für alle Menschen bleibt. Unsere Aktion soll zeigen, dass die Opfer nicht vergessen werden", erklärt Brüning die Idee für den Spaziergang.

Die in den Bodenbelag eingelassenen Stolpersteine werden in der Regel vor dem letzten Wohnhaus der Opfer verlegt. In der Mittelstraße hat die SPD die Patenschaft für das Gedenken an ein ehemaliges Mitglied übernommen. Der Versicherungskaufmann Gustav Dieter blieb auch nach dem Verbot der sozialdemokratischen Partei politisch aktiv. 1935 wurde er verhaftet und zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Am 18. März 1936 starb Dieter im Alter von nur 29 Jahren unter ungeklärten Umständen in der Strafanstalt Bruchsal. Vieles deute darauf hin, dass er gewaltsam zu Tode kam.

Vor einem Kiosk in der Langen Rötterstraße erinnert eine Messingplatte an Friedrich Dürr, der als entflohener KZ-Häftling im April 1945 am Dachauer Aufstand beteiligt war. Als Mitglied der verbotenen KPD ließ der gelernte Maschinenschlosser in der Silvesternacht 1934/35 mit zwei Genossen Flugblätter über Marktplatz und Tattersall regnen, und forderte eine "Einheitsfront gegen Hitler". Auch Dürr wurde verhaftet und wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. 1938 erfolgte die Deportierung nach Dachau, am 25. April 1945 gelang ihm mit anderen Häftlingen die Flucht. Drei Tage später versuchten die Geflohenen, das Dachauer Rathaus zu stürmen, doch der Mannheimer Widerstandskämpfer wurde wie seine Mitstreiter von der SS erschossen. Einen Tag bevor die Amerikaner das Konzentrationslager befreiten.

"Wir müssen mit offenen Augen durchs Leben gehen. Jeder und jede Einzelne sollte sich verantwortlich dafür fühlen, dass sich so etwas nicht wiederholt. Gerade jetzt, wo sich Mitmenschen aufgrund gegensätzlicher Meinungen in Lager spalten, sollte uns stets im Bewusstsein bleiben, wohin Ausgrenzung und Hass führen können", zeigt Landtagsabgeordneter Fulst-Blei beim Spaziergang durch die Neckarstadt auf, warum man nicht vergessen sollte, und ein bewusstes Erinnern auch in die Gegenwart wirken kann.

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