So könnte Corona den Lehrbetrieb verändern
Seit November stehen die Hörsäle und Seminarräume der Ruperto Carola leer. Was Unirektor Bernhard Eitel deshalb vermisst. "Die Mehrzahl will in die Präsenz zurück", sagt er.

Von Philipp Neumayr und Denis Schnur
Heidelberg. In der Alten Universität in der Altstadt brennt noch Licht. Rektor Bernhard Eitel empfängt in der "Bel Etage". Er trägt eine weiße FFP2-Maske, seinen Humor hat er nicht verloren. Auf die Frage, wie viel Freizeit er aktuell habe, sagt er "genauso wenig wie zuvor" und lacht. Ein Interview über einen Universitätsbetrieb auf Abstand und über die Rolle der Wissenschaft in Zeiten der Pandemie.
Herr Eitel, während an den Schulen nach wie vor vieles hakt, hat die Universität ihren Lehrbetrieb fast geräuschlos auf digital umgestellt. Waren Sie besser vorbereitet oder täuscht der Eindruck?
Die Umstellung auf den digitalen Lehrbetrieb war vielleicht geräuschloser als an den Schulen, aber so leicht ist es uns auch nicht von der Hand gegangen. Es waren erhebliche Anstrengungen erforderlich, was die allgemeine Infrastruktur angeht, aber auch hinsichtlich der rechtlichen Rahmenbedingungen. Und es war vor allem eine große Herausforderung für alle Lehrenden, ihre Veranstaltungen in kurzer Zeit auf digitale Formate umzustellen. Auch für die Studierenden war das nicht leicht. Aber wir hatten den Vorteil, es mit erwachsenen Menschen zu tun zu haben, die sich in vielen technischen Fragen gut auskennen. Die Startbedingungen waren für uns also andere als im Schulsystem.
In den vergangenen Monaten wurde auch in den Unis vieles möglich, was lange als unmöglich galt. Gehört die analoge Lehre der Vergangenheit an?
Auch interessant
Diejenigen, die früher für die komplette Digitalisierung des Universitätsbetriebs waren, sehen jetzt deren Grenzen. Und diejenigen, die die Digitalisierung immer abgelehnt haben, sehen jetzt deren Chancen. Da nähert man sich also an, und das ist eine gute Konsequenz aus den bisherigen Erfahrungen. Wir haben jedoch eindeutige Belege dafür, dass die Mehrzahl der Lehrenden und Studierenden in die Präsenz zurück will. Universität ist eben nicht digital. Sie lebt vom Zwischenmenschlichen, vom Lernen mit- und voneinander. Und Studium ist eine Lebensform, nicht nur eine Lernform. Zwei Drittel unserer Studierenden kommen von weit her, und diese jungen Menschen wollen in Heidelberg studieren im Sinne von "Lebensabschnitt gestalten". Die Zeit zwischen 18 und 28 Jahren ist eine Kernphase des Lebens. Da baut man professionelle Netzwerke auf, lernt Freunde und Partner fürs Leben kennen.
Zumindest manche Veranstaltungen finden nach wie vor in Präsenz statt. Einige Studierende haben das aufgrund der Infektionsgefahr kritisiert. Warum besteht die Universität auf diese Zusammenkünfte?
Es gibt Lehrveranstaltungen und Studienanteile, die können nur in Präsenz stattfinden. Das betrifft etwa die Arbeit im Labor, aber auch viele Prüfungen. Diese Veranstaltungen unterliegen einem strikten Hygienekonzept. Zu den Regeln zählen das Einhalten des Mindestabstands, das Tragen von Masken und die Bereitstellung von Desinfektionsmitteln. Zudem müssen Studierende eidesstattliche Versicherungen ablegen, dass sie symptomfrei sind, und ihnen werden vorab Plätze zugewiesen.
Das heißt aber nicht, dass es in der Uni nicht zu Infektionen kam, oder?
Bei 30.000 Studierenden, 8.000 Doktoranden und tausenden Beschäftigten gibt es natürlich auch positiv Getestete. Aber grundsätzlich können wir sagen, dass von der Universität keine größeren Infektionen ausgegangen sind. Das ist ein Zeichen, dass unser Hygienekonzept sehr gut funktioniert. Dieses umfangreiche Konzept hatten wir schon vor Start des Wintersemesters entwickelt und beschlossen – und durften es dann nicht einsetzen.
Sie zeigten sich damals – Zitat – "fassungslos", als das Land kurz vor Beginn des Vorlesungsstarts Präsenzveranstaltungen verbot.
Dass man zum damaligen Zeitpunkt aufgrund der Infektionsentwicklung die Schraube anziehen musste, ist klar. Was mich aber vor den Kopf gestoßen hat, war, dass Ihre Kollegin bei mir zum Interview im Büro saß, als mir die Pressemitteilung zu der entsprechenden Corona-Verordnung des Landes hereingereicht wurde. Und Ihre Kollegin sagte mir, dass diese der Redaktion schon vorliege. Da habe ich mir gedacht: Wo sind wir eigentlich, wenn die Presse vor uns erfährt, wie wir unseren Betrieb zu organisieren haben? Hinzu kommt, dass es der denkbar ungünstigste Zeitpunkt war.
Inwiefern?
Wir haben von dem Verbot der Präsenzlehre am Freitag, 29. Oktober, erfahren. Dieses Verbot galt ab dem darauffolgenden Montag, 2. November. Dabei wusste jeder: Am 2. November war Studienstart und die Erstsemester stehen vor der Tür. Man hätte sagen können: Der generelle Lehrbetrieb findet digital statt, aber für die Gruppe der Erstsemester gibt es eine Übergangszeit von wenigen Tagen. Das hätte an der pandemischen Entwicklung kaum etwas geändert. Die Erstsemester hätten jedoch die Möglichkeit gehabt, sich persönlich zu sehen und Kontakte auszutauschen. Dass man diese spezielle Situation eines Semesterstarts in einem Lockdown in keiner Weise berücksichtigt hat, war enttäuschend.
Hat sich die Kommunikation mit dem Land mittlerweile verbessert?
Ja, sehr, und dafür sind wir auch dankbar. Die Verordnungen über neue Beschlüsse werden zwar zwangsläufig immer noch sehr kurzfristig verabschiedet, aber wir werden inzwischen von der Rechtsabteilung des Wissenschaftsministeriums vorinformiert. Das ist zwar dann noch nicht die endgültige Corona-Verordnung, aber wir wissen zu 99 Prozent, was uns erwartet.
Die Arbeit von Wissenschaftlern ist durch die Pandemie stärker ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung gerückt. Welche Bedeutung haben Universität und Wissenschaft in einer Krise wie dieser?
Die Wahrnehmung mag eine andere sein, inhaltlich hat sich meiner Meinung nach nichts geändert. Die Entwicklung jeder Gesellschaft fußt auf der Kraft von Einrichtungen wie den Universitäten, die Wissen generieren.
Das sehen offensichtlich nicht alle so. Die Skepsis gegenüber der Wissenschaft scheint in Teilen der Bevölkerung groß, Fakten werden mitunter nicht mehr anerkannt. Woran liegt das?
Ich sehe eigentlich genau den gegenteiligen Effekt. Wir hatten noch vor eineinhalb Jahren die "Marches of Science", bei denen Menschen auf die Straße gegangen sind und für die Bedeutung von Wissenschaft demonstriert haben. Heute können Sie keine Fernsehsendung mehr schauen, ohne dass Sie einen Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin zu Gesicht bekommen. Natürlich gibt es die Ignoranten und Verschwörungstheoretiker, die gab es aber schon immer. Ich sehe eher die Gefahr, dass sich auch viele vermeintliche Experten und Expertinnen zu Themen äußern, für die ihre fachliche Kompetenz eigentlich nicht ausreicht. Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt bei der Sache.
Nämlich?
Wir dürfen nicht dazu übergehen, dass sich szientokratische Strukturen entwickeln. Wissenschaft strebt danach, Wissen und Erkenntnis zu produzieren, auf deren Grundlage die Politik abwägende Entscheidungen trifft. Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, aus der jeweiligen Perspektive heraus eine Empfehlung abzugeben. Aber letztlich muss politisch entschieden werden. Wissenschaft darf niemals regieren. Das muss man den Menschen gegenüber so auch kommunizieren und vertreten. Wissenschaft darf nicht zum Alibi für Politik werden.
Wie verändert Corona die Universität?
Eine Universität entwickelt sich immer in ihrem jeweiligen Kontext. Und deshalb wird auch die aktuelle Zeit ihre Spuren im historischen Gedächtnis der Universität hinterlassen. Ich bin mir aber sicher, dass der jetzige Zustand nicht von Dauer sein wird und sein kann.
Von welchen durch die Pandemie bedingten Veränderungen würden Sie sich wünschen, dass sie auch danach bleiben?
Ich gehe davon aus, dass es in der Lehre künftig mehr digitale Elemente geben wird, dass also bestimmte Inhalte digital vermittelt werden, aber darüber dann in Präsenz, etwa in Kolloquien, gesprochen wird. Wünschenswert wäre, dass das Dialogische, das die Universität früher viel mehr geprägt hat als in den vergangenen Jahrzehnten, somit trotz zunehmender Digitalisierung wieder eine größere Rolle spielen kann.
Wie lange hält es die Universität noch aus, ein Ort ohne Menschen zu sein?
Wir sind ja kein Ort ohne Menschen. Der Forschungsbetrieb läuft, genau wie die Verwaltung und die Serviceeinrichtungen. Ich denke aber, dass die Konsequenzen einer ausschließlich digitalen Lehre mit zunehmender Zeit tiefgreifender würden. Junge Menschen müssen eigene Erfahrungen machen, auch im Ausland. Das ist auch für die kosmopolitische Orientierung einer Gesellschaft enorm wichtig. Sie müssen sich kennenlernen und Kontakte knüpfen, um gemeinsame Ideen und Kreativität zu entwickeln. Vieles davon bleibt aktuell auf der Strecke. Daher ist es so wichtig, dass wir so rasch wie möglich wieder zu persönlichem Austausch und gelebtem Miteinander kommen können.
Info: Was Rektor Bernhard Eitel zur Fusion der Unikliniken Heidelberg und Mannheim sowie zum "Masterplan" sagt, lesen Sie nächste Woche in der RNZ.