"Es gibt Produktionen, die einfach nicht auf den Punkt kommen"
Theaterintendant Schultze erklärt, wieso ein Stück bei den Schlossfestspielen abgesetzt wird - Ein Gespräch über Qualität, Internationalität und politische Statements von Künstlern

Holger Schultze, 56, ist seit 2011 Intendant des Theaters Heidelberg. Diesen Sommer wurde sein Vertrag bis 2026 verlängert. Foto: Rothe
Von Sebastian Riemer
Heidelberg. So viele Leserbriefe hat die RNZ selten zu einem Theaterstück bekommen. "Langweiliger Klamauk und bedauernswerte Schauspieler, die das aufführen mussten", schrieb ein Leser über "Das Wirtshaus im Spessart" bei den Schlossfestspielen im Sommer. Theaterintendant Holger Schultze nimmt im Interview Stellung - und erörtert, wie politisch Theater sein muss.
Herr Schultze, auf Seite 176 des gedruckten Programmhefts wird für die Schlossfestspiele 2018 wieder das "Wirtshaus im Spessart" angekündigt. Doch nun wird es doch nicht gespielt. Hat das etwas mit den vielen negativen Kritiken der Zuschauer bei den diesjährigen Schlossfestspielen zu tun?
Es gibt Produktionen, die einfach nicht auf den Punkt kommen. Wir bekamen auch Rückmeldungen, die beklagten, wir hätten das Original stark verfälscht. Aber genau das Gegenteil stimmt: Wir haben uns sehr nahe an Wilhelm Hauffs Original gehalten. Doch viele haben eben den Liselotte-Pulver-Film im Kopf - und kamen mit dieser Erwartung. Dennoch: Die Produktion war nicht ideal. Da muss man dann Konsequenzen ziehen. Und das haben wir getan.
Zu den Schlossfestspielen kommen oft ganze Familien - und auch Menschen, die sonst selten ins Theater gehen. Ist das ein Problem, dass Sie das anspruchsvolle Stammpublikum befriedigen müssen, aber zugleich Angebote für eine breitere Zuschauerschaft machen wollen?
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Das sehe ich nicht als Problem. Die Schlossfestspiele sind eben ein bisschen Zirkus. Und ich glaube, dass die große Mehrheit auf dem Schloss einfach Unterhaltung will - aber Unterhaltung muss ja nicht billig sein. Etwas polemischer gesagt: Auch die Heidelberger dürfen lachen.
Zuschauer beschweren sich auch immer wieder über die schlechte Akustik bei den Schlossfestspielen. Besonders in den hinteren Reihen sind die Schauspieler manchmal kaum zu verstehen.
Auch da gehen wir jetzt ran. Nächstes Jahr setzen wir im Schauspiel auf dem Schloss erstmals Mikrofone ein. Der Anspruch der Menschen hat sich einfach verändert. Sie sind akustische Perfektion gewohnt und erwarten diese auch im Schloss, wo die Bedingungen natürlich anders sind als in einem geschlossenen Saal. Aber mit den Mikros haben wir jetzt eine gute Lösung.
Was wird statt Hauffs "Wirtshaus" bei den Schlossfestspielen gespielt?
Ich inszeniere selbst Carlo Goldonis "Diener zweier Herren", eine klassische Komödie, bei der wir Italien mit allen Klischees ganz lustvoll auf die Bühne bringen - mit Vespa, Spaghetti und "Bella Figura". Wir haben eine tolle Liveband, das wird ein großes Vergnügen.
Sie waren gerade in Südkorea, Gastland beim Stückemarkt 2018. Sie waren zum ersten Mal dort. Was ist Ihr Eindruck?
Es ist ein Land der Widersprüche: Zum einen gibt es kaum Kriminalität, auf der anderen Seite die höchste Selbstmordrate der Welt. Südkorea ist sehr westlich orientiert, inklusive Turbokapitalismus, pflegt zugleich aber auch seine kulturellen Traditionen. Interessant war auch: Viele fragten uns, wie wir Deutschen das mit der Wiedervereinigung gemacht haben. Und mir fiel auch auf: Die leben da viel cooler mit der politischen Realität, in Bezug auf die Bedrohung durch Nordkorea, als ich angenommen hatte.
Wie wird dort Theater gemacht?
Der größte Unterschied zu uns ist, wie wir schon bei unserem Festival "Adelante" mit den Südamerikanern erlebt haben, dass das alles freie Theatergruppen sind. Die Szene erholt sich gerade von einem riesigen Skandal: Im März wurde Präsidentin Park Geun-hye wegen Korruptionsverdachts ihres Amtes enthoben und angeklagt. Ihre Regierung hatte eine schwarze Liste von Kulturschaffenden geführt, die als Park-Kritiker galten - sie wurden von der staatlichen Kulturförderung ausgeschlossen. Da ist also gerade vieles im Umbruch - und das Theater, das häufig noch in sehr traditionellen Formen daherkommt, wird nun auch politischer und gesellschaftskritischer.
Mit Südkorea streckt das Theater Heidelberg seine Fühler erstmals nach Asien aus. Warum ist Ihnen diese internationale Zusammenarbeit so wichtig?
Das weitet den Horizont, unseren wie den der Zuschauer. Der Erfolg von "Adelante" gibt uns ja recht. Aber damit ist auch eine Botschaft verbunden: Nur durch Kooperation, durch gegenseitiges Kennenlernen und voneinander Lernen, können wir die Herausforderungen dieser Welt bestehen. Und in Zeiten, in denen Künstler in manchen Ländern um die Freiheit ihrer Kunst - oder gar ihre ganz persönliche Freiheit - fürchten müssen, ist das besonders wichtig.
Sie kündigten im Juni an, dass Sie das Thema "Artists in Risk" aufgreifen wollen - und Künstlern etwa aus Syrien oder der Türkei ein Podium geben. Wie weit sind diese Bemühungen gediehen?
Ein Team von uns fliegt noch dieses Jahr nach Ankara, um das in Bezug auf türkische Künstler auszuloten. Wir wollen ihnen hier in Heidelberg ein Forum bieten, das sie in ihrer Heimat nicht mehr bekommen.
Sie inszenieren in dieser Spielzeit Franz Xaver Kroetz’ "Ich bin das Volk". Das 1994 uraufgeführte Stück thematisiert das hässliche Deutschland, in dem damals Flüchtlingsheime brannten. Diesen Stoff aufzugreifen ist ja auch ein politisches Statement.
Definitiv. Es ist geradezu verrückt, auf welch visionäre Art und Weise Kroetz vor über 20 Jahren den Alltagsfaschismus in Deutschland analysierte. Die Mechanismen kennen wir alle: Das Stück zeigt, wie politische und gesellschaftliche Veränderungen dazu genutzt werden, Ängste zu schüren - und was daraus werden kann. Bei den Proben denke ich immer wieder: Aktueller geht’s gar nicht. Ich verstehe nicht, wieso nicht jedes Theater in Deutschland dieses Stück spielt.
Eine oft gestellte Frage, die aber immer wieder neu erörtert werden muss: Wie politisch darf, wie politisch soll, wie politisch muss Theater sein?
In Zeiten, in denen man sich fragen muss, ob die Demokratie sich selbst abschafft, sind öffentliche Orte des Diskurses wichtiger denn je. Und besonders wichtig ist es dabei, an Orten der Vielfalt - bei uns am Theater arbeiten Menschen aus über 30 Nationen - darüber zu diskutieren. Wir als Theatermacher sagen ganz klar: Die offene Gesellschaft ist nicht verhandelbar!



