So viele Interessenten wie noch nie
Heidelberg gibt jährlich 1,2 Millionen Euro für das Festival aus

Das Premierenpublikum genoss die Vampir-Geschichte im Schlosshof, auch Staatssekretärin Gisela Splett (in Rot), daneben Intendant Holger Schultze und OB Eckart Würzner. Foto: Rothe
Heidelberg. Es war heiß wie noch nie bei der Eröffnung der Schlossfestspiele am Samstag, doch die Zuschauer genossen das Spektakel um "Dracula" im Schlosshof genauso wie die Parallel-Veranstaltung im Dicken Turm. 4000 Karten mehr als im letzten Jahr wurden für die Festspiele bereits im Vorverkauf abgesetzt, wie Intendant Holger Schultze bei der Begrüßung auf dem Altan betonte: "Wirklich unglaublich." Dass alljährlich 35.000 Besucher zu den Festspielen kommen, liegt nach den Worten von Oberbürgermeister Eckart Würzner auch nicht allein an der wunderschönen Lage des Schlosses, "sondern an der Qualität der Aufführungen." Die Stadt Heidelberg lässt sich das jedes Jahr 1,2 Millionen Euro kosten, mit insgesamt 100 Millionen unterstützt sie Kulturprojekte. "Das können wir uns noch leisten", erklärte Würzner.
Staatssekretärin Gisela Splett aus dem Finanzministerium legte noch eine Zahl drauf: Im letzten Jahr habe das Land wieder 2,6 Millionen Euro im "bekanntesten und berühmtesten Schloss" verbaut, für Wände im Zeughaus und Stützmauern der oberen Terrasse. "Es ist eine Herausforderung bei einer Ruine", meinte sie, "man darf die Arbeiten ja anschließend nicht sehen." Splett erinnerte auch daran, dass bei Veranstaltungen und Baumaßnahmen dort immer wieder Rücksicht auf die Tierwelt genommen werde.
Hintergrund
Von Volker Oesterreich
Heidelberg. Irre kommen irre gut auf der Bühne oder der Leinwand. Das weiß man spätestens seit "Einer flog über das Kuckucksnest", Dürrenmatts "Physikern" oder Peter Weiss’ Revolutionsstück "Marat/Sade". Auch in Bram Stokers Schauerscharteke über
Von Volker Oesterreich
Heidelberg. Irre kommen irre gut auf der Bühne oder der Leinwand. Das weiß man spätestens seit "Einer flog über das Kuckucksnest", Dürrenmatts "Physikern" oder Peter Weiss’ Revolutionsstück "Marat/Sade". Auch in Bram Stokers Schauerscharteke über den unverwüstlichen Graf Dracula ist irre was los und das wird jetzt bei den Heidelberger Schlossfestspielen lustvoll ausgeschlachtet. Gagatainment ist garantiert, zum Gruseln taugt die "Dracula"-Fassung des Heidelberger Chefdramaturgen Jürgen Popig aber weniger. Ihm kommt es auf kichernde Zwerchfellerschütterungen an, nicht auf Gänsehautgefühle.
Genauso sieht das auch Christian Brey. Der Regisseur hat schon des Öfteren den komödiantischen Sirup mit großer Kelle ausgeschenkt. Diesmal verköstigt er sein Publikum mit Blut, diesem schon von Mephisto geschätzten "ganz besondren Saft". Der mephistophelische Dracula hat ihn zum Süffeln gern. Und die bissbrünstigen Ladys sind ganz wild auf den sanguinischen Lüstling, weil der Flattermann die Mund-zu-Hals-Behandlung so verführerisch gut beherrscht. Beim ersten Mal, da tut’s noch weh, beim zweiten Mal schrei’n sie Juchhe.
Da behaupte noch einer, die Briten seien während des viktorianischen Zeitalters ganz schrecklich prüde gewesen. Von wegen! "Da war unverhüllte Wollust, gleichzeitig abstoßend und erregend", wie es in Bram Stokers Original heißt, nachzulesen im Programmheft. Wobei die Einschränkung erlaubt sei, dass sich die Ensemblemitglieder keineswegs unverhüllt zeigen. Die Bühnen- und Kostümbildnerin Anette Hachmann hat allesamt adrett eingekleidet. Ihre nostalgischen Wallegewänder, Irrenhaus-Zwangsjacken, Zylinderhüte oder Fledermausflügel kämen bestimmt auch bei einer transsilvanischen Modenschau oder auf einem Catwalk in good old Brexitland ganz prima zur Geltung.
Raphael Gehrmann spielt den untoten Titelhelden, der sein heimisches Gruselgemäuer verlässt, um fortan in London sein Unwesen treiben zu können. Als Gepäck hat er sieben Särge voll Friedhofserde dabei. Doch die tagtägliche Grabesruhe darin sei ihm nicht gegönnt. Dafür steht der Vampirjäger Professor van Helsing mit den bewährten Utensilien: ganz viel Knoblauch, Weihwasser-Fläschchen und Kruzifixe. Sein holländischer Akzent kontrastiert hervorragend mit dem rollenden Balkan-R des Blutsaugers. Marco Albrecht mimt den Dracula-Töter wie einen zweiten Sherlock Holms. Immer eine Spur überdreht, immer ein bisschen überkandidelt. Er versteht sich auch auf Bluttransfusionen und den neuesten technischen Krimskrams der vorletzten Jahrhundertwende. Da kann Dracula (in Anspielung auf ein Buchcover) noch so geschickt die Schlossmauern herabklettern oder seine bärbeißige Dämonie entfalten, am Ende heizt ihm van Helsing dennoch effektvoll ein.
Sophie Melbinger, Lisa Förster und Nicole Avercamp haben als Ladys und Vampirinnen den richtigen Biss, während Fabian Oehl und Benedict Fellmer ins bewährte Rollenfach der Trottelfraktion greifen dürfen. Olaf Weißenberg schließlich hat als Anstaltsinsasse Renfield seine Spinnen und Fliegen zum Fressen gerne, wobei er mit irrem Blick ganz wunderbar zu chargieren versteht. Dass in vielen Szenen dick aufgetragen und mit rollenden Augen gekalauert wird, ist den weiten Dimensionen im Schlosshof geschuldet. Die Gags müssen auch ganz hinten noch ankommen.
Die von Tobias Cosler geleiteten "Kinder der Nacht" sorgen für den adäquaten Sound mit Keyboard-Georgel, Klarinetten-Kieksern und Cello-Pizzicati. Die haben was drauf, die Jungs. Und weil alles so schön locker sein soll, wird zwischen den Reihen auch noch mit Wassermelonen gealbert, und obendrein gibt’s eine Lektion über das Schloss als "bedeutendstes Fledermausquartier Nordbadens". So schlägt man aus dem Lokalkolorit Funken. Da staunt sogar Graf Dracula, bevor er in seiner letzten Szene zum flambierten Blutsauger mutiert. Anschließend ist die Tausendschaft im Schlosshof ganz Feuer und Flamme.
Info: Weitere Vorstellungen am 5., 7., 11., 12., 14., 15., 23., 24. u. 30. Juli, jeweils 20.30 Uhr.
Hintergrund
Von Heribert Vogt
Heidelberg. Ein Mann wie ein Abgrund: Der Pariser Monsieur Lenglumé glaubt selbst, dass er zu den schrecklichsten Untaten fähig ist, bis hin zum Mehrfachmord. Aber da mag kommen, was will - Hauptsache die bürgerliche Fassade wird gewahrt. Aus dem
Von Heribert Vogt
Heidelberg. Ein Mann wie ein Abgrund: Der Pariser Monsieur Lenglumé glaubt selbst, dass er zu den schrecklichsten Untaten fähig ist, bis hin zum Mehrfachmord. Aber da mag kommen, was will - Hauptsache die bürgerliche Fassade wird gewahrt. Aus dem Zwiespalt dieser krassen Doppelmoral bezieht die turbulente Komödie "Die Affäre Rue de Lourcine" von Eugène Labiche (1857) ihre sich immer weiter steigernde Dynamik, die zu einem ganzen Reigen grotesker Missverständnisse und komischer Kollisionen führt.
Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hat die deutsche Version erstellt, und Regisseur Robin Telfer zaubert damit zum Auftakt der Heidelberger Schlossfestspiele eine heiter-schwungvolle Inszenierung in den Supersommerabend - das Ganze im Dicken Turm mit dem Weltklassepanorama über die Stadt und die Rheinebene bis hin zu den Pfälzer Bergen.
Und Telfer hat sich eine Menge sprühender Ideen einfallen lassen, um diese unglaubliche Szenerie und Stimmung des Sonnenuntergangs für den Theaterabend einzufangen. Zum Beispiel hat der bieder-monströse Rentier Lenglumé seine Schlafstatt mittendrin in diesem Ambiente. Soll das etwa heißen, dass dessen vermeintlicher Killer-Instinkt in uns allen schläft?
Aber gemach! Auch Lenglumé hat ganz andere Sorgen, als er morgens aus den Kissen gekrochen kommt. Nach dem gestrigen alkoholschwangeren Klassentreffen hat er einen veritablen Filmriss. Er hat keine Ahnung mehr davon, was nach dem Salat noch passiert ist - als er einen Mitschläfer in seinem Bett ausmacht. Wen hat er da im Suff nur abgeschleppt? Die erste Reaktion: Hoffentlich ist es wenigstens eine Frau - aber es ist ein Mann.
Das ist schon mal nicht so gut für die Fassade. Jedoch handelt es sich lediglich um den gestrigen Saufkumpan Mistingue, so beruhigt sich Lenglumé nur kurz. Denn schon beim Frühstück liest er in der Zeitung, dass am Vorabend ein Kohlenmädchen von zwei finsteren Gestalten ermordet wurde - und beide Co-Schläfer haben Kohlespuren an den Händen! Jetzt kommt die kreuzbrave Fassade doch ganz erheblich ins Wanken, wobei die Brüchigkeit des Salon-Milieus mit der Ruine des Dicken Turms korrespondiert.
Und Lenglumé hat alle schwarzen Hände voll zu tun, die einstürzenden Altbauten seiner Bürgerlichkeit zu stützen. Bald hetzt er in einem immer stärkeren Schlinger- und Schleuderkurs über die schiefe Ebene auf der Bühne, schrammt dabei durch das Dickicht der Konventionen und will schließlich - ganz nahe am Wahnsinn - potenzielle Zeugen des Kohlenmädchenmordes aus dem Weg räumen.
Hendrik Richter spielt auf famose Weise diesen Biedermann außer Rand und Band mit einer irren Mischung aus Engstirnigkeit und Verschlagenheit, wobei beide Negativzustände übergangslos ineinander umschlagen und sogar zu wahren Wrestling-Szenen führen können. Richters Lenglumé ist entweder in der Vorwärts- oder Rückwärtsverteidigung - ein Dazwischen, wo der saturierte Rentier nur er selbst ist, gibt es offenbar in seinem entfremdeten Leben nicht. Und hier liegt eine gehörige Portion Gesellschaftskritik versteckt.
Deutlich proletarischer mischt der zweite Teilnehmer des Klassentreffens in dem ganzen Tohuwabohu mit: Thorsten Danner gibt den so jovialen wie handfesten Koch Mistingue, der mitunter der Devise folgt: Erst kommt das Fressen und dann die Moral, was dem distinguierteren Lenglumé durchaus missfällt. Aber der ist stets aufs Neue dadurch gefordert, seine Gattin Norine (Friederike Pöschel) selbst in den steilsten Kurven der Absurdität bei der Stange zu halten. Und gleichzeitig auch noch seinen Vetter Potard (Jonathan Schimmer): Für dessen Nachwuchs sollen Lenglumé nebst Gattin heute eigentlich die Taufpaten sein.
Last but not least gab Martin Wißner den Bediensteten Justin mit viel Biss - und akrobatischen Einlagen. Einmal mehr bewies der Schauspieler seine tolle Fitness: wenn er mit den Füßen die Weinflasche auf dem Tisch platziert, wenn er Spiderman-mäßig in den hohen Zuschauerrängen herumturnt oder als pechschwarze Gestalt auf hoher Mauer steht - vielleicht drohend wie Darth Vader oder Belphégor, aber wahrscheinlich doch auf das dunkle Schicksal des Kohlenmädchen hinweisend. Dieser Bedienstete spielte mit seinen starken Aktionen bei der Einbeziehung des Dicken Turms eine zentrale Rolle. Aber in dieser Figur lauert zugleich die Alternative zum arrivierten Leben - getragen von der Wut der Ausgeschlossenen.
Aber trotz der allgemeinen explosiven Gemengelage - nicht enden wollende Brexit-Verhandlungen inklusive - löst sich am Ende doch noch einmal alles in Wohlgefallen auf. Das kann an einem so schönen Theaterabend mit der effektvollen Bühnengestaltung von Peer Rudolph, den historischen Kostümen von Katharina Kromminga, der musikalischen Begleitung von Günter Lehr und viel Gesang der Akteure eigentlich auch gar nicht anders sein. Oder doch?
Am Ende heißt es zwar in einem Lied: "Ist’s vorüber, lacht man drüber." Aber man lacht auch schon am Anfang. Und am Schluss schwingt in der Gute-Laune-Stimmung eine Spur des Gruselns mit. - Starker Applaus.
Info: Nächste Termine: 25., 27., 29. Juni sowie viele weitere bis 29. Juli. Das Programm steht Ihnen oben rechts als Download zur Verfügung.