Was ist eigentlich die Sammlung Prinzhorn?
Wo die Sphäre des Normalen endet: Leiter Thomas Röske über die Forschungsarbeit. Der Bestand ist auf rund 40.000 Werke angewachsen.

Von Julia Lauer
Heidelberg. Zuletzt verging kaum eine Woche, in der die Sammlung Prinzhorn nicht für Schlagzeilen sorgte. Dabei ging es um ihre Bedeutung und ihre Bedrohung, um Versäumnisse und Verantwortlichkeiten.
Vertreter aus Kultur, Wissenschaft und Politik meldeten sich dazu zu Wort. Thomas Röske, der die Sammlung mit Werken von Psychiatrie-Patienten leitet, äußert sich in dieser Debatte nicht. Aber was ihn als Kunsthistoriker und Museumsleiter umtreibt, das erzählt er gern.
Und auch danach, wie die vergangenen Wochen für ihn waren, darf man ihn fragen. "Zuletzt haben wir die Besucherzahlen gesteigert", erzählt er gut gelaunt über einem Kaffee im Hof der Psychiatrie in Bergheim. Die Berichterstattung habe sicher dazu beigetragen, meint er. Und er ergänzt, mit einem Augenzwinkern: "Ich hoffe aber, dass das auch an unserer aktuellen Sonderausstellung liegt."
Während sich die Blicke vieler Menschen in der Stadt und darüber hinaus auf das Haus und seine Zukunft richten, beschäftigen den Museumsleiter noch viele andere Dinge. Zum Beispiel: die Forschung.
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Einen Eindruck davon vermittelt die aktuelle Sonderausstellung, die im Museum neben der Dauerausstellung zu sehen ist. Sie trägt den Titel "Normal#Verrückt", diesmal ist darin nur eine einzige Zeichnung eines Psychiatrie-Insassen zu sehen. Darüber hinaus zeigt sie Exponate, die für eine Auseinandersetzung damit stehen, wo die Sphäre des Normalen endet und die des Verrückten beginnt.
Die Ausstellung ist verkopfter als andere, denn was es mit den Exponaten auf sich hat, erschließt sich nicht intuitiv, sondern über die begleitenden Texte. Hervorgegangen ist die Ausstellung aus einem interdisziplinären Forschungsprojekt. Auch Röske selbst war daran beteiligt.
Seit 2001 ist die Sammlung Prinzhorn mit ihren Zeichnungen, Gemälden, Textilien oder auch Collagen in Form eines Museums öffentlich zugänglich. Doch sie ist mehr als das. "Wir sind Teil des Universitätsklinikums und Teil der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg und sehen uns auch als Forschungseinrichtung", erläutert Röske.
Und wäre er, der einst in Hamburg Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Psychologie studierte, der seinen Zivildienst in einer Psychiatrie ableistete und seine Doktorarbeit über Hans Prinzhorn verfasste, nicht 2001 Ausstellungskurator der Sammlung geworden, dann, sagt er, dann wäre er wohl an der Uni geblieben. "Als das Angebot aus Heidelberg kam, war ich gerade dabei, meine Habilitation zu schreiben. Es ging um Kunst in der Psychiatrie, ein Thema, das mich seit meiner Schulzeit interessiert."
Kein Wunder also, dass Röske Forschungsfragen weiter begleiten – zumal die Sammlung einst selbst zu Forschungszwecken angelegt worden ist. Der Psychiater Emil Kraepelin begann um 1900 damit, künstlerische Werke von Anstaltspatienten aus Heidelberg und aus dem nahe gelegenen Wiesloch zu sammeln. Er setzte die Bilder als Lehrmittel ein, sie sollten psychische Krankheiten illustrieren.
Ab 1919 erweiterte der Kunsthistoriker und Mediziner Hans Prinzhorn die Sammlung, indem er Werke von vielen weiteren Psychiatrien im In- und Ausland einwarb. Prinzhorn begann, sie zu katalogisieren und auszuwerten. Sein Ziel: den Ursprung von Kreativität zu ergründen.
Unter Prinzhorn wuchs der Bestand auf knapp 5000 Werke an. "Bis heute sind wir damit beschäftigt, Prinzhorns Sammlung zu verstehen", sagt Röske. Immer wieder tauchten neue Patientenakten auf, die erlaubten, die Werke besser zu erfassen oder einem Patientenkünstler überhaupt erst zuzuordnen. Anders als früher stehen dabei aber keine Diagnosen im Mittelpunkt – die, meint Röske, änderten sich ohnehin.
Sein Blick ist deshalb weiter, bezieht die Umstände der Internierung mit ein: "Wir forschen vor allem zu den Hintergründen der Werke", erzählt er. Oft bezögen sie sich auf den Anstaltskontext, vermittelten die Perspektive der gesellschaftlich Ausgeschlossenen. "Uns interessiert, was die Künstler mit ihren Werken gemeint haben könnten. Es geht uns also um ein klassisch hermeneutisches Verständnis."
Die Arbeit wird Röske so schnell nicht ausgehen. Heute ist die Sammlung auf rund 40.000 Werke angewachsen. Der größte Teil ist eingelagert in zwei Depots in Bergheim, sie befinden sich – noch – in den Räumlichkeiten des Museums sowie im Untergeschoss der ehemaligen Frauenklinik.
Mit 24.000 Werken habe er selbst mehr als die Hälfte des Bestands eingeworben, erzählt der Kunsthistoriker. Er erhält die Werke von Patienten oder von deren Angehörigen, manchmal stammen sie aus dem Nachlass eines Psychiaters. Vereinzelt hat er auch schon Werke angekauft, mit der Hilfe von Spendengeldern – so etwa zwei großformatige Zeichnungen des Schweizer Künstlers Adolf Wölfli.
Es gebe zwar eine ganze Reihe von Einrichtungen, die Werke aus Psychiatrien hätten. "Aber mit Blick auf Vielfalt, Alter und Umfang sucht diese Sammlung ihresgleichen", ordnet er ein. Eine seiner neuesten Errungenschaften: ein Teppich der Patientin Emma Mohr aus Erfurt. Sie bestickte ihn im 19. Jahrhundert in jahrelanger Arbeit mit Bildern und Briefen an den Kaiser. "Das ist ein ganz besonderes Stück", schwärmt Röske.
Von Organisations- und Personalfragen über Pressearbeit bis hin zu Mäusen in den Räumlichkeiten: Als Leiter der Sammlung sowie eines neunköpfigen Teams ist Röske für vieles zuständig. Wie viel Zeit ihm da für die Kunstgeschichte im engeren Sinne bleibt, kann er selbst nicht genau sagen. Er liest, sofern er dazu kommt. Nebenbei unterrichtet er als Privatdozent an den Unis in Heidelberg und Frankfurt. "Dabei lerne ich am meisten", erzählt er.
"Ich muss gefordert sein, in den Diskurs einzusteigen." Auch die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen bringt neue Aspekte in die Auseinandersetzung ein – so auch etwa die Mitarbeit im Sonderforschungsbereich Heimat(en), der kürzlich an der Universität Heidelberg die Arbeit aufnahm. Erfreulich auch: Dass die Sammlung an dem Projekt beteiligt ist, bringt ihr zwei Doktorandenstellen ein.
Daneben wirft auch die Darbietung der Exponate Fragen auf. "Als Kurator beschäftigt mich in letzter Zeit, wie man Werke präsentiert, die nicht zu Ausstellungszwecken angefertigt wurden", berichtet Röske – so wie beispielsweise die fiktive Währung, die die Patientenkünstlerin Else Blankenhorn auf Papier malte. Von ihr selbst sei das als Zahlungsmittel und nicht als Bild gedacht gewesen.
"Wie soll man das würdig zeigen, sodass die Präsentation die Idee hinter dem Werk vermittelt?", fragt Röske. Zum anderen will er die Sammlung wieder stärker an die Klinik zurückbinden: Ein Museumsbesuch auf Rezept könnte Patienten bei der Genesung unterstützen.
In anderen Ländern gibt es das schon, die Auseinandersetzung mit Kunst soll beispielsweise gegen Angstzustände und Depressionen wirken. "Dazu sind wir in Gesprächen mit Krankenkassen und Therapeuten", sagt Röske. "Hier ein Konzept zu entwickeln, ist unser Zukunftsplan."




