Wie die Heidelberger Band Advanced Chemistry gegen Rassismus anrappte
Ihr Song aus dem Jahr 1992 ist ein Manifest - "Hier ist das Ganze explodiert", sagt Kofi Yakpo alias "Linguist"

Von Philipp Neumayr
Heidelberg. Deutschland im Sommer 1992. Das Land ist nicht einmal zwei Jahre wiedervereinigt, als Neonazis in Rostock-Lichtenhagen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Mecklenburg-Vorpommern angreifen – eine der schwersten ausländerfeindlichen Krawallen in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Szenen aus Lichtenhagen gingen um die Welt – und sie bebilderten das Intro eines Songs, der bis heute wie kein anderer für den Kampf gegen rassistisches Denken und diskriminierende Strukturen steht: "Fremd im eigenen Land" von der Heidelberger Band Advanced Chemistry.
Angefangen hat alles an der Friedrich-Ebert-Grundschule. Hier treffen Kofi Yakpo alias Linguist, Toni Landomini alias Toni-L und Frederik Hahn alias Torch erstmals aufeinander. "Der Lehrer hat mich an meinem ersten Schultag neben Toni gesetzt", erinnert sich Kofi Yakpo. "Torch war in der dritten Klasse, eine Klasse unter uns." Yakpo arbeitet heute als Professor für Linguistik an der Universität Hongkong. Als er mit zehn Jahren in die Klasse 4a der Ebert-Schule kommt, kehrt er zurück in die Stadt, in der er einige Jahre zuvor den Kindergarten besucht hatte. Dazwischen lebte Yakpo, gebürtiger Niedersachse, in Ghana, dem Heimatland seines Vaters.
In Heidelberg wächst Yakpo, der sich selbst als ghanaisch-deutsch und als afrodeutsch bezeichnet, in einem bürgerlichen Umfeld auf. Die Mutter Ärztin, der Vater Anwalt, der Stiefvater Arzt. "Den größten rassistischen Anschlägen bin ich immer entkommen", sagt Yakpo. Doch es gibt Situationen, in denen er merkt, dass Herkunft und Aussehen schon früh über die Lebenschancen bestimmen. "Als ich aufs Hölderlin-Gymnasium kam, waren da nur noch weiße deutsche Kids. Da habe ich gemerkt: Irgendwas stimmt hier nicht." Die deutsch-türkischen Freunde von der Ebert-Schule seien plötzlich nicht mehr da gewesen, sie waren auf der Realschule. Einer von ihnen, Ahmed, wurde später Straßenbahnfahrer. Yakpo sagt: "Ich bin mir sicher, er hätte auch Physikprofessor werden können."
Hintergrund
Hip-Hop ist eine Musikrichtung, die ihre Wurzeln in der afroamerikanischen Funk- und Soul-Musik hat. Daneben umfasst der Begriff aber auch subkulturelle Elemente wie Rap (MCing), DJing, Breakdance, Graffiti-Writing und Beatboxing.
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Hip-Hop ist eine Musikrichtung, die ihre Wurzeln in der afroamerikanischen Funk- und Soul-Musik hat. Daneben umfasst der Begriff aber auch subkulturelle Elemente wie Rap (MCing), DJing, Breakdance, Graffiti-Writing und Beatboxing.
Die Wurzeln des Hip-Hop sind mit der Sklaverei verknüpft. Seine Kultur bildete sich vor dem Hintergrund der sozialen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten der 1960er- und 1970er-Jahre heraus, als es in vielen Innenstädten zu einem sozialen und ökonomischen Niedergang kam. Davon besonders betroffen waren junge Menschen in der South Bronx von New York City, die als Wiege des Hip-Hop gilt.
Nach Deutschland kam Hip-Hop Anfang der 1980er-Jahre, befördert durch Schallplatten, Filme und vor allem durch die in Deutschland stationierten amerikanischen Soldaten. Anfangs war das Genre eine Untergrundbewegung, zu der auch Advanced Chemistry gehörte. Mit Bands wie "Die Fantastischen Vier" kommerzialisierte sich der deutschsprachige Hip-Hop in den 1990er-Jahren zunehmend. (pne)
Das "Hölderlin" ist Yakpo irgendwann "zu muffig". Er wechselt auf die Internationale Gesamtschule (IGH), die auch Frederik Hahn und Toni Landomini und die Zwillinge Martin und Christian Stieber, später erfolgreich als "Stieber Twins", besuchen. Während aus diesen Kindern Erwachsene werden, rollt eine Hip-Hop-Welle durch das Land. Aus den USA kommend, erreicht sie Heidelberg wegen der stationierten Amerikaner besonders früh, animiert Jugendliche wie Torch, Toni-L und Linguist zum Breakdancen, Sprayen und Rappen. Die IGH, sagt Yakpo, sei der Brutkasten gewesen. "Hier ist das Ganze explodiert."
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1987 gründen Yakpo, Landomini und Hahn gemeinsam mit Gonzalo Maldonado Morales (Gee-One) und Michael Jean Pierre Dippon (DJ Mike MD) Advanced Chemistry. Wie Yakpo haben sie fast alle ihre verschiedenen Ursprünge, Lebenswege und Einflüsse. Gee-One wird in Chile geboren, flieht früh mit seiner Familie vor der Pinochet-Diktatur nach England. Hahn ist der Sohn einer Haitianerin, während der Vater von Landomini aus Italien nach Heidelberg kam. Die Band ist bald auf Jams in der ganzen Republik unterwegs, gastiert bei legendären Festivals wie dem "CH Fresh" in der Schweiz.

Im November 1992, kurz nach den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Lichtenhagen, erscheint dann "Fremd im eigenen Land". Zuvor hatte es den Song bereits auf Englisch gegeben, unter dem Titel "Stranger in my own land". Rassismus, Diskriminierung, diese Themen seien bis dahin tabu gewesen, sagt Toni-L. "Das musste angesprochen werden." Auch er selbst erfuhr, wie es ist, nicht dazuzugehören. "Du warst der Sohn eines Italieners. Das war damals nicht immer etwas Positives."
"Fremd im eigenen Land" ist ein Manifest der Menschlichkeit und der Akzeptanz. Der Song zeigte, dass auch deutschsprachiger Rap ernste Themen adressieren und politisch sein kann. Er dreht sich um die Erfahrungen von Migrantenkindern, um Rassismus und Ausgrenzung – und enthält einprägsame Reime wie: "Nicht anerkannt, fremd im eigenen Land/Kein Ausländer und doch ein Fremder." Das Video dazu entstand ein halbes Jahr später, wurde in der Altstadt gedreht. Kurz danach lief es als erstes deutsches Rap-Video auf dem englischen MTV-Kanal, machte Advanced Chemistry international zu Stars – und zu Vorbildern ganzer Generationen von Musikern.
"Was die Rezeption angeht, war es unser wichtigster Song, weil er einfach den Nerv der Zeit traf", sagt Kofi Yakpo heute. Dass "Fremd im eigenen Land" in Heidelberg entstand, sei kein Zufall gewesen. Eine kleine Stadt, intellektuell aufgeladen, viele Menschen unterschiedlicher Herkunft. "Wir hatten einen breit gestreuten Freundeskreis über alle sozialen und ethnischen Grenzen hinweg. Wir haben dadurch ein breites Spektrum an Lebenserfahrungen mitbekommen, was unsere Songs genährt hat."
Zu diesem Kreis gehörte auch der heutige Grünen-Stadtrat Derek Cofie-Nunoo. Als er den Song zum ersten Mal hörte, war er 27 Jahre alt. Wie Yakpo hat auch Cofie-Nunoo ghanaische Wurzeln. Mit "Fremd im eigenen Land", sagt der 54-Jährige, habe Advanced Chemistry eine Identität, ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl für alle Kinder von Einwanderern geschaffen. Eine Pionierleistung, wie er findet. "Was die Jungs für Heidelberg gemacht haben, was sie für Botschafter für die Stadt waren – das ist bei vielen noch nicht angekommen."
Yakpo zog sich Mitte der Neunziger aus der aktiven Musik zurück, machte seinen Künstlernamen zum Beruf. Hahn und Landomini sind dem Hip-Hop bis heute treu geblieben. Torch gelang mit seinem Album "Blauer Samt" ein Meilenstein der deutschen Hip-Hop-Geschichte. Toni-L hat vor kurzem seinen Song "Keine Jukebox" veröffentlicht. Gemeinsam haben sie die "360° Winterjams" ins Leben gerufen, zu denen jedes Jahr über 1000 Menschen nach Heidelberg kommen. In die Stadt, in der in den achtziger Jahren alles begann. In der man Advanced Chemistry irgendwann vielleicht einmal ein Denkmal setzen wird.