Von Gabriele Derouiche
Kein Sonnenstrahl, kein Nordlicht, kein Stern am Himmel. Grimmiges Brausen in eisiger Dunkelheit, grollendes Meer in undurchdringlicher Finsternis. Der 22. Januar 1973 war auf der Westmännerinsel Heimaey ein tiefschwarzer Wintersonntag.
An diesem Tag peitschten Orkanböen das Meer am Morgen zu meterhohen Wellen auf. Die Boote blieben im Hafen. Was ein verlustreicher Tag für die Fischer war, wurde zur wundersamen Fügung für die rund 5300 Inselbewohner. Alle kamen mit ihrem Leben davon. Diejenigen, die damals dabei waren, grüßen sich noch heute wie eine verschworene Gemeinschaft. "Gegen halb drei Uhr nachts zuckten plötzlich Feuer und Blitze durch die Schwärze. Ohrenbetäubendes Getöse hatte mich geweckt. "Das ist der Dritte Weltkrieg" waren meine ersten panischen Gedanken", erinnert sich Kristín Jóhannsdóttir, die damals 13 war. "Dann quoll hellrote Lava aus einer glühenden Spalte. Und plötzlich war allen klar, der Helgafell bricht aus." Jeder griff nach dem scheinbar Nötigsten – nach dem Schulranzen, dem Kätzchen, der Gitarre - und nahm es mit aufs Boot, hin zum rettenden Festland. Wären die Fischer in dieser Nacht auf dem Meer gewesen, hätte das zu einer Katastrophe geführt.
Monatelang rollte die Glut über die Insel hinweg, begrub Hunderte von Häusern und drückte dabei den 220 Meter hohen Krater des Eldfell aus der Erde. Der Ausbruch hat sich als "Schwarzer Montag" unauslöschlich in die Inselannalen gebrannt.
Mehr als 47 Jahre später, rund 40 Kilometer vom Flughafen Keflavik auf der isländischen Ringstraße Richtung Osten: Vom Fährhafen Landeyjahöfn aus schiebt sich die leicht angerostete "Herjólfur" in zwanzigminütiger Passage hinüber nach Heimaey. Am Horizont nähert sich der Archipel als graue, wellige Felskette, 14 Eilande über einem geschlossenen unterseeischen Vulkanfeld. Ein brodelndes, unberechenbares Stück Erde, Anschauungsunterricht für isländische Oberschüler. An Bord toben zwei Dutzend Blondschöpfe, Hauptstädter auf Klassenfahrt. Das Geschnatter wird leiser, Handykameras werden ausgerichtet, als die "Herjólfur" an den Klippen der äußeren Inseln vorbei tuckert. Hoch oben balancieren Mutterschafe an der Grasnarbe entlang. An den Felsen schlackern meterlange Taue im Wind. Daran hangeln sich im Frühjahr wagemutige Schäfer hinauf, holen Lämmer und bringen Widder zur weiteren Vermehrung.
Kristín Jóhannsdóttir vom Vulkanmuseum Eldheimar. Fotos: Gabriele DerouicheIn der Ferne ist die kantige Silhouette des jüngsten Inselwunders, Surtsey, zu sehen: 1963 durch einen unterirdischen Vulkanausbruch geboren, wuchs sich das sensationelle Lavababy zur zweitgrößten Westmännerinsel aus. Außer einigen Naturwissenschaftlern darf sie bis heute niemand betreten.
Schließlich tauchen die ersten bunten Häuser Heimaeys auf. Sie schmiegen sich an den von einer 20 Meter hohen, dunklen Lavawand flankierten Hafen. Die düstere Schutzmauer markiert jenen Punkt der rund 13,5 Quadratkilometer großen Insel, an dem die Glutwelle zum Stehen kam. Trostpflaster nach all der Zerstörung: endlich ein geschützter Hafen, der auch hohe Wellen fernhält.
Am nächsten Morgen ist der Frühlingshimmel wolkenlos. Kühler Seewind pfeift um die Ohren, frische sieben Grad treiben zur Bewegung an. Vorbei an violetten Lupinenbeeten und grell leuchtendem Löwenzahn geht es über warme, bröselige Aschefelder hinauf zum Krater des Eldfell. Der Feuerberg, die rostrote Ausgeburt des Ausbruchs, malt Bilder von schlichter Schönheit an den Horizont.
Papageientaucher.Die Schüler sind schon auf den Beinen, auf dem Grat zeichnen sich ihre Silhouetten gegen den klaren Himmel ab. In der Ferne trennt der Horizont Himmelsblau von Meeresgrau, lässt die Augen Ruhe finden. Auf glitzernden Wogen schaukeln Boote dahin. Unten tupfen die Häuser mit ihren Wellblechverkleidungen knallbunte Flecken vor die grünen Hausberge. "Wir schämten uns damals, fühlten uns wie Schmarotzer, als wir monatelang auf dem Festland zur Schule gingen", erzählt Kristín Jóhannsdóttir den jungen Leuten. Sie zeigt auf die Fotos von der Rettungsaktion, die in ihrem Vulkanmuseum Eldheimar (Feuerwelt) hängen. "Die Familien wollten zurück nach Heimaey. Doch ihr Zuhause war unter Asche begraben."
Vor mehr als zehn Jahren kreierte die Museumsdirektorin am Fuße des Kraters ihr "Pompeji des Nordens", ließ einen Teil der verschütteten Häuser freilegen und baute darum herum das Ausstellungshaus. Direkt vor dem 2014 eröffneten, rostroten Kubus ragt aus schwarzem Aschehügel eine Ruine heraus und illustriert die schicksalhafte Wucht der Natur.
Mitten im Museum duckt sich die Kate einer fünfköpfigen Kapitänsfamilie. Unter niedrigen Balken liegen umgestürzte Möbel, auf dem Dach verstreute Vulkanasche. Ein Video zeigt die Kapitänsfrau, wie sie bei der Ausgrabung geschmolzene Plastikteller aus der Schlacke zieht. Sie erinnert sich: "Ich hing spät abends noch Wäsche auf, als plötzlich eine große Feuersäule aufstieg, dann ging ein Riss durch die Erde." Der fast 1700 Meter lange Schlund spie die Glut bis zu 200 Meter hoch in die Luft. Eine Lavawand rollte über Wochen bedrohlich und scheinbar unaufhaltsam auf den Hafen zu.

Für ihre Idee, die zerstörerische Glut mit Meerwasser zu stoppen, ernteten die Insulaner bei europäischen Politikern viel Spott.
Nur die Amerikaner halfen, schickten Hochleistungspumpen und schafften das Unmögliche. Die glühende Erdmasse wurde gestoppt, bevor sie die Hafeneinfahrt verschloss.
Genug von Asche und Verwüstung. Es geht in den Süden der Insel zur Kolonie der Papageientaucher. Grünes, moosiges Weideland und dahinter der endlose Atlantik säumen die Straße. Vorbei an der historischen Bucht, wo im 17. Jahrhundert algerische Piraten anlandeten, brandschatzten und die Insulaner als Sklaven verschleppten.
Auf der Halbinsel Stórhöfdi markiert ein kleiner Leuchtturm den vielleicht stürmischsten Punkt Europas. Windgeschwindigkeiten von mehr als 150 Stundenkilometer werden hier gemessen. Dann tauchen die munteren Papageientaucher auf. Gleich zu Hunderten bevölkern sie die Klippen - das Wahrzeichen Heimaeys. In kargen Zeiten jagte man sie, heute pflegen die Insulaner ein eher zärtliches Verhältnis zu den Rotschnäbeln. Im Puffin Rescue Center am Hafen päppeln freiwillige Helfer schwache und kranke Tiere wieder auf.
Allmählich senkt sich die Abendsonne über den Horizont. Untergehen wird sie in diesen Frühsommertagen nicht. Gegen Mitternacht sitzen die jungen Leute draußen im seidigen Dämmerlicht, trinken und lachen. Zeit, den Abschied von Heimaey zu feiern. Im Hintergrund erhebt sich der Kegel des Eldfell in magischem Leuchten. Erdgeschichtlich gesehen ist er ein blutjunger Krater, ein winziges Kapitel in der Historie des Vulkanismus.
Mehr als 150 aktive und erkaltete Vulkane prägen Island. Die Inselhistorie ist auch die Geschichte ihrer Ausbrüche. Manche werden berühmt, wie der Eyjafjallajökull, dessen Eruption vor zehn Jahren den europäischen Flugverkehr lahmlegte. Andere kauern Ewigkeiten im Verborgenen, unter meterdicken Gletschern, bis sie plötzlich ihre Glut durch die eisigen Spalten jagen und ihre Geschichte von Feuer und Eis herausdonnern.