Idylle am Wasser: die Stettiner Hakenterrasse mit Seemuseum und Regierungsgebäude am Westufer der Oder. Foto: Getty
Von Dirk Engelhardt
Iwona amüsiert sich königlich bei der kleinen Sprachübung. "Szczecin" einigermaßen richtig auf Polnisch auszusprechen, überfordert die Teilnehmer der kleinen Gruppe auf der Tour durch die Innenstadt eindeutig. Wahrscheinlich, weil sie um den Zungenbrechereffekt polnischer Wörter wissen, freuen sich die Einheimischen umso mehr, wenn Besucher das eine oder andere Wort auf Polnisch kennen.
Stettin, das sieht man auf den ersten Blick, wenn man auf dem kleinen Hauptbahnhof aus dem Zug steigt, hat im Zweiten Weltkrieg sehr stark gelitten. Große Teile der Altstadt wurden 1943 durch Bomben zerstört, und so prägen heute gesichtslose Nachkriegsbauten, Plattenbauten und immer mehr restaurierte Altbauten das Stadtbild. Obwohl einige Radwege neu angelegt wurden, sieht man nur wenige Fahrradfahrer. "Stettiner sind faul", lautet dazu der Kommentar von Iwona. "Die fahren lieber mit dem Auto." Gegen halb vier setzt in der Stadt die Rushhour ein, denn Polen fangen früh mit der Arbeit an und machen keine Mittagspause. Deshalb ist in den meisten Büros nachmittags schon Schluss.
Einen guten Überblick über die Stadt hat man von der Jakobskathedrale. Ein Aufzug geht bis hinauf in die Turmspitze. Schaut man von dort hinunter, so bleibt der Blick unweigerlich an der strahlend weißen neuen Philharmonie hängen, die erst sechs Jahre alt ist und von Fabrizio Barozzi und Alberto Veiga entworfen wurde. Der Sonnensaal im Inneren des Gebäudes ist mit Blattgold ausgelegt. Und die Stettiner sind sehr stolz auf solche Vorzeigebauten.
Das „Denkmal der Tat der Polen“ stellt drei zum Flug ansetzende Adler als Symbol für die am Wiederaufbau der Stadt beteiligten Generationen dar. Foto: EngelhardtLiebhaber von Altbauwohnungen sollten einen Spaziergang ins Pariser Viertel rund um den Plac Grunwaldzki machen. Hinter kleinen Vorgärten mit schmiedeeisernen Geländern stehen vierstöckige, massive Wohnhäuser, wie man sie auch in Berlin-Wilmersdorf oder im Pariser Stadtteil Saint-Germain-des-Prés findet. Einige sind nobel restauriert und warten auf neue Mieter, andere wiederum sind so stark lädiert, dass der üppige Fassadenschmuck regelrecht vor dem Herunterfallen geschützt werden muss. Leerstand gibt es so gut wie keinen. Und so müssen denn auch Stettiner, die auf Wohnungssuche sind, meist längere Zeit dafür einplanen.
Instagrammer steuern gerne auf die Boguslawa-Straße zu, die sich mit alten Gaslaternen, Gründerzeitfassaden und Straßencafés als Selfie-Hintergrund gut eignet. Südlich des Plac Grundwaldzki, an der Aleja Wojska Polskiego 2, befindet sich das älteste Kino der Welt, das bis heute ununterbrochen Filme zeigt. Es nennt sich "Kino Pionier 1907" nach dem Jahr seiner Gründung. Innen ist es im Retro-Stil eingerichtet und die Filme, meist in der Originalversion, werden mit einem echten Projektor vorgeführt – Nostalgie pur! Dabei sitzen die Zuschauer an Tischen und trinken ein Glas Wein; bei manchen Filmen kommt auch das historische Klavier zum Einsatz.
Apropos Wein: Der ist in Stettin verhältnismäßig teuer, die Stettiner selbst trinken meist Bier. Es gibt einige Mikrobrauereien von hoher Qualität, etwa das Brauhaus Nowy Browar oder die Familienbrauerei Wyszak, die am Heumarkt im Backsteingewölbe des Ratskellers liegt. Ausgeschenkt wird naturtrübes, ungefiltertes Bier vom Pils über Weizen bis zum Ale.
Wer sich ansehen will, wie sich Stettin weiterentwickelt, sollte auf die Oderinsel Lastadie fahren. Romantisch ist es hier nicht, es dominieren Industriebauten, Schnellstraßen und Bahngleise. Einige Hafenkräne, die 100 Jahre auf dem Buckel haben, wurden vor Kurzem restauriert. Der Alte Schlachthof wurde ebenfalls wieder aufgefrischt und fungiert heute als Kulturzentrum der Euroregion. Bis 2021 soll zudem das hypermoderne Gebäude des Maritimen Wissenschaftszentrums fertig sein. Auch ein "Strand" aus Sand wurde aufgeschüttet, der allerdings keinen Zugang zum Ufer hat. Im Zuge des Projekts "Szczecin 2050 – Floating Gardens" ist geplant, dass sich Stettin im Zentrum Europas zu einer deutsch-polnischen Metropolregion entwickelt.
Für Autofans bietet sich ein Besuch des Technikmuseums an. Schwerpunkt der Sammlung in einem ehemaligen Straßenbahndepot sind die Vehikel der Marke Stoewer, die von 1858 bis 1945 in Stettin produzierte. Weil die Marke sehr aufwendig arbeitete und neue Modelle in kurzer Reihenfolge auf den Markt warf, war sie vom Autofabrik-Sterben in der Weltwirtschaftskrise nicht betroffen. Neben Luxus-Automobilen und Fahrrädern wurden auch Nähmaschinen produziert, die ebenfalls ausgestellt sind. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ereilte Stoewer schließlich das Schicksal vieler ostdeutscher Betriebe: Das Werk wurde aufgelöst, die Maschinen wurden in die Sowjetunion verschifft. Zunächst ist es noch unklar, ob Stettin Deutschland oder Polen zugesprochen wird. Im Herbst 1945 wird Stettin dann endgültig polnisch – was der DDR lange Zeit ein Dorn im Auge war.