Die Rauwolligen Pommerschen Schafe sind die besten Landschaftspfleger auf dem Mönchgut und somit unverzichtbar im Biosphärenreservat. Fotos: Ekkehard Eichler
Von Ekkehart Eichler
Malerischer geht es kaum. Von der Ruhe ganz zu schweigen. Kaum zu glauben, dass sich nur wenige Kilometer entfernt die Blechkarawanen der Urlauber über Deutschlands Ferieninsel Nummer eins quälen und an den Ostseestränden das entfesselte Urlaubsleben tobt. Hier, ostwärts der weißen Residenzstadt Putbus, ist davon nichts zu spüren, zieht die Insel ganz andere Seiten auf.
Alte Alleen säumen teils noch Straßen mit Kopfsteinpflaster. Bewaldete Hügelkuppen liegen am Weg, kleine Seen sprenkeln die Tälchen dazwischen. Durch die Buchenwälder der Granitz schnauft der Rasende Roland, die älteste deutsche Schmalspurbahn. Am Boddenufer im Süden reihen sich winzige Dörfer mit reetgedeckten Häusern und Obstgärten aneinander. Und vis-a-vis komplettiert die Insel Vilm das Idyll, deren märchenhaften Urwald gerade mal 30 Personen pro Tag besuchen dürfen.
"Was Sie heute sehen werden, ist eine Landschaft, wie es sie im gesamten norddeutschen Küstenraum kein zweites Mal gibt", stachelt Stefan Woidig gleich zu Beginn seiner Exkursion im Revier die Neugier seiner Gäste an. Nicht ganz zufällig hat er sich die Kirche von Groß Zicker auf dem Mönchgut zum Startpunkt auserkoren; von hier aus lässt sich ein besonders attraktiver Teil von Rügens Südost-Zipfel in drei bis vier Stunden auf einem Rundweg erkunden.
Das Pfarrwitwenhaus Groß Zicker von 1719 ist eines der ältesten Wohnhäuser Rügens.Das kleine gotische Backstein-Juwel wurde um 1360 erbaut und ist damit das älteste Gebäude auf dem Mönchgut. Dieses gehörte in jener Zeit den frommen Zisterzienser-Brüdern des Klosters Eldena bei Greifswald – über den Bodden gerade mal 27 Kilometer Luftlinie entfernt, auf dem Landweg sind es fast hundert. Randlage und Abgeschiedenheit prägten das Mönchgut schon damals. Das blieb auch fortan so und brachte Kultur und Traditionen hervor, wie es sie nirgendwo sonst auf Rügen gibt. Einen sagenhaften Schatz an Märchen und Geschichten etwa.
Auftakt-Spaziergang durch Groß Zicker. Das Bauern- und Fischerdorf aus dem 12. Jahrhundert steht unter Denkmalschutz und vermittelt noch heute die altertümliche Atmosphäre längst vergangener Zeiten. Dafür sorgen niedrige Häuser mit bunten Türen, wuchtigen Reetdächern und prächtigen Bauerngärten. Besonders auffällig ist das Pfarrwitwenhaus aus dem frühen 18. Jahrhundert. Mit untypisch spitzem Schilfdach – im Volksmund "Zuckerhut" – und ohne Schornstein; der Rauch zog seinerzeit über das sogenannte Eulenloch am Dachfirst ab.
Das älteste Gebäude auf dem Mönchgut: Die gotische Backsteinkirche von Groß Zicker wurde um 1360 erbaut.Dann wird es kurzzeitig steil. Über eine Wiese steigt Woidig auf zum Gipfelkamm der Zickerschen Alpen – so nennen sie hier liebevoll die sanfte Hügelkette, auf der es von Frühjahr bis Herbst grünt und blüht, dass einem schier die Sinne vergehen. Lila Blumenteppiche überziehen die Kuppen, dann wieder übernehmen Mohn und Kornblumen das Kommando und wetteifern leuchtend um die Gunst des Betrachters. Und dazu ein Panorama-As nach dem anderen: Ganz Südost-Rügen liegt einem hier zu Füßen – mitsamt Ostsee und Boddenlandschaft.
Zeit zum Verschnaufen, Zeit zum Erzählen. "All das wurde von den Gletschern der Weichselkaltzeit vor 10.000 Jahren modelliert", berichtet Stefan Woidig. Dann verpassten Wind und Wellen dem Landstrich seinen Feinschliff und hinterließen höchst eigenwillige Spuren. Land und Meer etwa sind hier tief ineinander verzahnt, formen Haken, bilden Nehrungen. Hier gibt es Halbinseln und Landzungen, Bodden und Wieken, Flach- und Steilküsten, Block- und Sandstrände, Salzwiesen und Niedermoore und so seltsame Sachen wie Geschiebemergelkliffs und Kliffranddünen – manches davon werden wir später noch aus der Nähe sehen.

Eine zweite Besonderheit: Als Biologe beim Biosphärenreservat kennt sich Woidig wie kaum ein zweiter aus mit der hiesigen Flora und Fauna. Ein Glücksfall für einen Fachmann wie ihn, denn auf den nährstoffarmen Böden haben sich viele Pflanzen angepasst, die eigentlich am Mittelmeer und in Südosteuropa zu Hause sind. Allein über Gräser könnte er seinem Affen stundenlang Zucker geben, und das tut er auch mit Inbrunst und Leidenschaft. Er referiert über den bunt blühenden Trockenrasen, der von Frühjahr bis Herbst die Hügel überzieht und jede Woche anders aussieht. Er berichtet über die erbitterten Kämpfe der Pflanzen um den besten Platz, die meisten Nährstoffe und das meiste Wasser, "die nicht nur über, sondern auch unter der Erde ausgefochten werden – notfalls sogar mit chemischer Kriegsführung."
Und er präsentiert seiner staunenden Schar immer wieder seltsame und seltene Gewächse wie den Berg-Haarstrang und den zwiebeltragenden Zahnwurz. Exoten wie Klappertopf und Silbergras. Schwalbenwurz und Ochsenzunge, die beide auf der Roten Liste stehen. Orchideen wie den Vogel-Nestwurz und das "konkurrenzstarke Land-Reitgras, um das selbst unsere besten Landpfleger, die Rauwolligen Pommerschen Landschafe einen großen Bogen machen." Und das will schon etwas heißen bei der robusten Rasse mit den schwarzen Köpfen, die hier auf Schritt und Tritt zugange sind.
"Ohne diese Beweidung jedenfalls sähe es hier ganz anders aus" würdigt Woidig abschließend noch einmal nachdrücklich die unverzichtbare Rolle der Schafe bei Gestaltung- und Pflege einer Kulturlandschaft, wie sie vor der industriellen Landwirtschaft einmal aussah. Als Mensch und Natur noch überall im Einklang lebten. So wie auch jetzt wieder. Im Biosphären-Reservat Südost-Rügen.