Von Manfred Ofer
Tübingen. Wenn die Gondeln Trauer tragen, sollte man sich nach der Romantik vor der Haustür fragen. Die letzte Etappe auf dem Neckartalradweg ist bestens geeignet für so eine Reise. Sie führt von Tübingen nach Schwenningen, wo der große Fluss entspringt. Im studentischen Tübingen kann man auf einem Stocherkahn das süße Leben feiern und den Reimen toter Dichter lauschen. Bei Rottweil liegt bereits der Hauch des Südens in der Schwarzwaldluft. Die älteste Stadt Baden-Württembergs verzaubert ihre Gäste mit einer prächtigen Altstadt und der schwäbisch-alemannischen Fastnacht.
Wer Tübingen zum ersten Mal betritt, sollte das im Morgengrauen machen. Wenn das frühe Licht die Neckarfront mit ihren schönen alten Häusern küsst, bietet sich die Eberhardsbrücke als die perfekte Loge für das Schauspiel an. Von hier aus hat man einen runden Blick auf eine ganze Menge von dem, was der Stadt den Ruf beschert, zu den Schönsten Deutschlands zu gehören. Das Zusammenspiel der bunten Fassaden, Trauerweiden und Platanen, dem man am Fluss begegnet, lässt auch mein Herz vor Glück tanzen.
Über der vortrefflich erhaltenen Altstadt thront das Schloss Hohentübingen, das ein Weltkulturerbe bewahrt: Kunstwerke, die so alt wie die Menschheit sind. Vor 40.000 Jahren schnitzten unbekannte Meister aus dem Elfenbein erlegter Mammuts filigrane Figuren für die Ewigkeit. Gefunden in einer Höhle der Schwäbischen Alb, markieren sie für gelehrte Geister die Anfänge von Kunst und Religion, weshalb sie in einem Museum hinter dickem Panzerglas stehen. Nun, denke ich, das lohnt sich doch zu sehen, und leine mein "Ragazzi"-Rad im Schatten der alten Platanen am Neckar an.
Während meine Gedanken bereits zu den Eiszeitkünstlern schweifen, wandern meine Blicke an der malerischen Neckarfront entlang, um am gelben Hölderlinturm zu verweilen. Unter seinem spitzen Dach hat der tragische Poet seine letzten Tage zugebracht. So erzählt man sich das. Man erzählt sich aber auch, dass seine Schwermut lediglich vorgetäuscht war, um einer Anklage wegen Hochverrats zu entgehen. Im frankophilen Tübingen hätte ein solches Urteil die Guillotine zur Folge gehabt. Am Fuß des Turms, im Schatten einer gewaltigen Trauerweide, befindet sich ein Anleger der berühmten Stocherkähne. Die schwäbische Version der venezianischen Gondel.
Der Schwarze Turm von Rottweil markiert den geographischen Eingang zum Schwarzwald.Deren Kapitäne können mit einem Repertoire aus Poesie, Klatsch und Gesang aufwarten, was mich neugierig macht. Besonders beeindruckt mich ein Mann mit Hut und vielen Geschichten. Und weil mir das, was er so erzählt, im höchsten Maße wunderlich erscheint, beschließe ich, die Neckarfahrt bei ihm zu buchen. Bis zum Ablegen bleibt mir allerdings noch etwas Zeit, die ich in den Gassen der verwinkelten Altstadt und auf der Mauer von Schloss Hohentübingen verbringe.
Nach meinem Besuch im Museum ordere ich einen französischen Kaffee auf dem Marktplatz und bewundere das Rathaus mit seiner Renaissancefassade. Vor einer alteingesessenen Vinothek steht eine besonders lange Schlange junger Leute an, die sich mit einem guten Tropfen versorgen möchten, um sich später unten am Fluss zu treffen. Nirgendwo sonst kommt mir Tübingen so mediterran vor wie dort, wo Pärchen, Weintrinker und einsame Herzen die Sommerabende verbringen. Mein letzter Gedanke, bevor ich an Bord eines schwankenden Stocherkahns gehe.
Zwischen Sulz und Rottweil gab es eine Begegnung mit einer Kuhherde.Während der Fahrt geizt das schwäbische Venedig keinesfalls mit seinen Reizen – und unser Käpt’n nicht mit wehmütiger Romantik. Die stammt nicht von ihm, sondern aus der Feder Hölderlins. Wie sollte das auch anders sein? Fast eine Stunde lang rezitiert er Hymnen, Märchen und Geschichten, was für sein fotografisches Gedächtnis und viel Fantasie spricht.
Meine Augenlider sind schon wahrlich schwer, da wird noch schnell das "schönste Liebesgedicht der Welt" serviert. Ein Familienvater, der mit uns im selben Boot sitzt, hat als junger Mann in Tübingen studiert. Vor allem aber hat er dereinst auch so einen Kahn für eine Handvoll Euro manövriert, weshalb er den Student, der uns über den Neckar stochert, darum bittet, es noch einmal selber machen zu dürfen. Er bettelt regelrecht darum, bis sich der Gondoliere erbarmt und ihm den Stab überlässt. Dann setzt er sich hin und entspannt sich. Für mich ist das die Gelegenheit für ein Gespräch.
Ich will wissen, wie gut der Job bezahlt wird? "Gar nicht mal so schlecht", verrät er mir. Und wem gehören die ganzen Stocherkähne? Die meisten den Studentenverbindungen, von denen es um die 130 in Tübingen gäbe. Er selber sei auch in einer drin. Mit oder ohne Schmiss? "Ohne", erwidert er und tippt sich grinsend auf die Wange. Wenig später geht unsere Fahrt ohne Havarie zu Ende. Bleibt nur noch das Ende vom Lied, das unser Käpt’n zum Abschied schmettert. Kein "O sole mio", sondern die Nationalhymne Württembergs. Ciao Tübingen!
Die Bilder und Lieder aus der Stadt der toten Dichter begleiten mich am nächsten Morgen auf dem Weg zum allerletzten Neckarknie, das idyllisch zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb liegt. In Rottenburg, einer Bischofstadt mit eindrucksvollem Dom, trinke ich einen Kaffee unter einem blauen Himmelsdach. Weiter geht es mit dem Gebirgszug der Alb zu meiner Linken. Die Kilometer schmelzen wie Butter in der Sonne dahin, als ich auf einmal nachdenklich werde. Der Alptraum eines Bikers ist ja bekanntlich ein platter Reifen. Was, wenn mir so kurz vor dem Ziel das Gummi um die Ohren fliegt?

Mit einer Wolke düsterer Gedanken über dem Kopf schwebend, fahre ich geschwind über Wiesen und Felder. Und plötzlich steht eine Herde stolzer Kühe vor mir. Sie schauen mich mit ihren großen Augen an, als wenn ich ein Alien wäre. Meine Vollbremsung ist nicht von dieser Welt. Glück gehabt!
Diese Route geizt nicht mit Impressionen. Vielleicht wäre Ablenkung das passendere Wort dafür, denn eigentlich müsste der Weg ganz entspannt am Fluss entlang führen. Doch seit einigen Minuten geht es nur noch steil den Berg nach oben. Ich habe mich verfahren.
Aus dem letzten Loch pfeifend und mit "Ragazzi" im ersten Gang erreiche ich den Gipfel. "Keine Angst, nach Horb geht es von hier aus nur noch bergab", verrät mir ein Biker, dem ich in diesem Nirgendwo begegne.
Als ich bei Horb den finalen Knick erreiche, atme ich auf. Die Altstadt mit dem Hexenturm grüßt von einem Hügel über dem Neckar. "Horb" kommt aus dem Althochdeutschen und bedeutet "Sumpf". An einigen Stellen hat der Strom hier mit seinen Auen, Weilern und Tümpeln auch tatsächlich was von einem Moor. Es ist ein Ort, an dem sich die Seele wohlfühlt. Blutsauger übrigens auch. Angetrieben von ihren Stechattacken, lasse ich Sulz hinter mir. Bei Oberndorf muss ich mir eingestehen, dass das mit der Neckarquelle heute nichts mehr wird. Also mache ich ein Bett in Rottweil klar.
Als ich am nächsten Morgen durch das mittelalterliche Schwarze Tor die prächtige Altstadt betrete, pulsiert zwischen Lüftlmalereien das Leben. Auf einem Markt werden Früchte vom nahen Bodensee angepriesen.
Inmitten von all dem südländischen Flair finde ich eine Einkehrmöglichkeit. Einen Teller Deftiges aus der Schwabenküche gibt es in der traditionellen Schankwirtschaft zum Bier. Die Wände sind mit historischen Bildern und Holzmasken der schwäbisch-alemannischen Fastnacht dekoriert, die hier zur DNA gehört. Im Münster findet man die närrischen Gesichter sogar in das alte Holz der Kirchenbänke geschnitzt.
Der letzte Akt meiner Reise entlang des Neckars steht an. Der Namensgeber des Weges sprudelt aus einer lieblichen Öffnung in einem Park zu Schwenningen. Es ist geschafft. Wir haben es geschafft, weil mich "Ragazzi" wie ein junges Tourenrad getragen hat.
Eine Legende besagt, dass es Glück bringt, wenn man die Quelle einmal umrundet und sich dabei etwas wünscht. Das habe ich getan. Und wird der Wunsch wahr, ist es bis zu meiner Rückkehr an den Neckar nicht mehr allzu lange hin.