Leukerbad bei Nacht. Fotos: Schweizer Tourismus
von Stefan kern
Klar, auch in der Schweiz ist das Corona-Virus angekommen. Und genau wie hier im Flachland gelten in den Alpen Vorsichtsregeln wie Abstand halten und Hände waschen. Doch etwas ist anders. Zwar nicht überall, aber wenn man in den Bergen unterwegs ist, erscheint nicht das Virus aber der Diskurs darum etwas kleiner. Höhe und das Sars-CoV-2-Virus verhalten sich umgekehrt proportional.
Je höher und einsamer, desto weiter weg erscheint der Corona-Alltag. Es zeigt sich einmal mehr, Alltag ist kaum höhentauglich. Geradezu mustergültig zeigt sich dieser Effekt im Wallis. Diesem Paradies zwischen Himmel und Erde mit seinen 45 majestätischen Viertausendern. Anders als sonst soll hier jedoch nicht das Matterhorn, sondern der Gemmipass die Königin sein. Der einzige Pass in der Schweiz, der auch im Winter gut zu queren ist.
Der Gemmipass zwischen Kandersteg und Leukerbad in den Berner Alpen beschreibt einen 2269 Meter hohen Kamm zwischen dem Daubenhorn (2942 Meter) im Westen und den Plattenhörnern (bis 2855 Meter) im Osten. Archäologische Funde lassen darauf schließen, dass der Pass schon 1800 vor Christus in der Bronzezeit als Nord-Süd-Verbindung genutzt wurde. In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich die Passhöhe zu einer wichtigen Route für Güter und Menschen zwischen dem Süden (Italien) und dem Norden (Germanien). Eine Bedeutung die der Gemmipass heute natürlich schon lange verloren hat. Dafür haben ihn die Menschen auf der Suche nach Natur entdeckt. Und diese mit spektakulär zu beschreiben, reicht gerade so aus. Denn das Erlebnis Gemmipass ist atemberaubend.
Die karge, verschneite Felslandschaft im Winter lässt trotz der eisigen Temperaturen niemanden kalt. Mit entscheidend für diesen Effekt ist der Bartgeier. Majestätisch kreist dieser Vogel mit einer Spannweite von locker drei Metern über dem Gemmipass und lädt die Formulierung, in der Ruhe liegt die Kraft, mit viel Bedeutung auf. "Es berührt etwas im Menschen, diesen Greifvogel so nah zu sehen", so der Inhaber der Gemmibahn und des Berghotels "Wildstrubel". Ein Satz, den auch das Betreiberpaar des Berghotels "Schwabenbach", Trudi und Peter Stoller-Wehrli dick unterstrichen und weit über den Vogel hinaus deuteten. Für sie gilt: "Es gibt wohl kaum einen schöneren Ort, um dem Glück so nahe zu sein".
Winterwandern über den Gemmipass. Foto: Schweiz TourismusLos geht es zu diesem Ort in Kandersteg. Natürlich ist das Ganze von Leukerbad aus auch in umgekehrter Richtung möglich. Zu Fuß oder per Seilbahn geht es auf die Sunnbüel, wo der historische Weg Richtung Gemmipass führt. Dabei sei hier klar vermerkt, dass es keine schwierige Route ist. Gut präpariert und mit nur sanftem Anstieg. Trotzdem ist man im Gebirge, und drei bis vier Stunden bis zur Passhöhe erfordern eine gewisse Ausstattung in Sachen Fitness. Der Aufbruch findet am späten Morgen statt. Kurz nach elf auf der Sunnbüel, 1920 Meter über dem Meer, und schon hier verschlägt es dem Flachländer schier den Atem, Nicht wegen der Höhe, sondern wegen des gigantischen Panoramas. Stahlblauer Himmel, Wolkenberge im Tal, die Temperatur deutlich unter null Grad und die Schneekristalle in der Luft funkeln wie Diamanten.
Das Eindrücklichste hier ist jedoch die Stille. Das einzige Geräusch ist das Knirschen der Bergschuhe im Schnee. Über die Zeit versetzt dieses Triptychon aus Sehen, Stille und Bewegung den Wanderer in eine Art Trance. "Ganz bei sich ohne großes Ich." Es mutet Paradox an, so Loretan, aber genau das sei der hochalpine Effekt. Er nennt die Berge hier Demut gebietend. Wer will, könne hier gut spüren, dass er Teil der Natur sei und beileibe nicht der bedeutendste.
Über die weite Ebene der Spittelmatte führt der Weg zu einem Arvenwald, der die Grenze zwischen den beiden Kantonen Bern und Wallis markiert. Von hier ist es dann nur noch ein kleines Stück zum Berghotel "Schwarenbach" auf 2061 Metern Höhe. Das 1742 ursprünglich als Zollstation erbaute Gasthaus gilt als eines der ältesten Berggasthäuser in der Schweiz und verfügt über eine Gästechronik, die staunen lässt. Neben Guy de Maupassant, Jules Verne und Mark Twain nächtigten hier unter anderem auch Pablo Picasso und Alexandre Dumas, der Autor von "Der Graf von Monte Christo" und "Die drei Musketiere". Das Reden vom verzauberten Ort ist allzu kitschig. Trotzdem trifft es diesen Ort nahezu genau. Gerade nachts, bei klarem Himmel und eisigen Temperaturen unter dem funkelnden Sternenzelt, bewahrheiten sich die Worte der Stoller-Wehrlis vom schönen Ort, der dem Glück so nah ist.
Nach einem herrlich-zünftigen Mittagessen geht es weiter Richtung Daubensee mit dem Ziel Gemmipass. Wer Glück hat, kann hier erstmals die Bartgeier am Himmel entdecken. Sanft steigt der Weg Richtung Passhöhe an. Die letzten steilen Höhenmeter zum Pass, vom Ufer des Daubensees aus, kann der Wanderer bei Bedarf mit der kleinen Daubensee-Seilbahn bewältigen. Oben, beim Berghotel "Wildstrubel", hoch über Leukerbad angekommen, offenbart sich dem Betrachter einmal mehr ein Panorama der Viertausender. Eine ganze Perlenkette vom majestätischen Gipfeln schmückt den Horizont. Unter ihnen natürlich auch das legendäre Matterhorn (4478 Meter).
Und darüber kreist, nicht weniger majestätisch, der Bartgeier. Man kann sich kaum satt sehen – sowohl tagsüber als auch nachts. Kleines Aussichtshighlight ist die Aussichtsplattform beim Wildstrubel. Die fast zart anmutende Stahlkonstruktion mit Gitterrost ermöglicht Schwindelfreien kurz abzuheben. In die andere Richtung geht es mit dem Schlitten. Die beiden Schlittenpisten vom Wildstrubel zum Daubensee machen Eindruck. Abends auf der Terrasse mit einem Heißgetränk fügen sich Sein und Umgebung zu einem harmonischen Ganzen. Die Welt ist schön, nirgends wird das klarer als hier.
Am nächsten Morgen geht es dann mit der Bahn ins Tal nach Leukerbad, wo auf die hochalpinen Wanderer eine Therme der Superlative wartet. Aus circa 65 Quellen sprudeln täglich bis zu 3,9 Millionen Liter knapp 51 Grad warmes Thermalwasser. Es ist das größte natürliche Thermalwasservorkommen in ganz Europa. Gerade für hochalpine Wanderer eine Art Jungbrunnen.