Von Michael Ossenkopp und Alexander R. Wenisch
Montignac. Die Geschichte liest sich wie ein Abenteuer aus einem Jugendbuch: Vier Jugendliche verlieren bei ihrem Streifzug durch den Wald ihren Hund. Sie suchen ihn. Und stoßen auf eine umgestürzte Kiefer. Unter dem mächtigen Wurzelballen sehen sie einen Hohlraum, aus dem sie ihren Terrier "Robot" herausholen.
Doch drei Tage später kommen Marcel Ravidat, Jacques Marsal, Georges Agniel und Simon Coencas zurück, um das Loch zu erkunden. Seit Jahren gibt es schon in der Region die Legende von einer Höhle, in der ein Schatz versteckt sein soll. "Mit meiner kleinen Bande suchten wir. Wir hatten gehofft, einen Schatz zu finden. Wir haben einen gefunden, aber nicht den, den wir dachten", erinnert sich Simon Coencas Ende 2016.
Denn als sie in das Erdloch kraxeln, ahnen die vier natürlich nicht, was sie erwartet: Ein Höhlensystem, das seit Tausenden Jahren kein Mensch mehr betreten hat. Die Wände, soweit sie das mit dem schwachen Licht ihrer Taschenlampen sehen können, sind gespickt mit Malereien: Stiere, Pferde, Hirsche, Fabelwesen. Durch einen Zufall haben die vier Freunde – damals zwischen 15 und 17 Jahre alt – die besterhaltenen prähistorischen Malereien Europas entdeckt.
Was sich also zum Beispiel Enid Blyton nicht besser hätte ausdenken können, ist tatsächlich passiert. Und zwar in der kleinen Ortschaft Montignac in der französischen Dordogne – genau vor 80 Jahren am 12. September 1940.
Die Jugendlichen schwören sich, ihre Entdeckung geheim zu halten. Doch die Abmachung hält nur ein paar Tage. Dann vertrauen sie sich ihrem Lehrer an, der umgehend den Abt Henri Breuil benachrichtigt. Die Koryphäe auf dem Gebiet prähistorischer Malereien war vor deutschen Besatzern geflohen und hält sich zufällig in der Gegend auf. Am 21. September trifft Breuil in Montignac ein und bezeichnet die Malereien nach eingehendem Studium als die "Sixtinische Kapelle" der Vorgeschichte. Noch 1940 liefert er eine erste wissenschaftliche Beschreibung. Der Fund wird schnell zur Sensation. Noch im gleichen Jahr kommt der Maler Pablo Picasso, um die Höhle zu besichtigen. Anschließend soll er – in einer Mischung aus Begeisterung und Resignation – gesagt haben: "Wir haben nichts Neues gelernt."
Wie alt sind die Malereien? Sie werden den Périgordien zugerechnet, der jüngeren Altsteinzeit, stammen also von den ersten Menschen, die vor circa 38.000 bis 21.000 Jahren in Europa und in Südwestfrankreich gelebt haben.
Der imposanteste Teil des etwa 250 Meter langen Gangsystems ist der "Saal der Stiere". Verschiedene Auerochsen, Pferde, Hirsche sowie ein Bär und als Fabelwesen ein Einhorn sind hier abgebildet. Der berühmte Stier als Wahrzeichen der Dordogne verfügt mit 5,20 Metern über beeindruckende Größe. In der "Apsis" können mehr als 600 Figuren betrachtet werden, die einander oft überlagern. Im "Schacht" befindet sich die einzige Menschendarstellung, ein Mann mit Vogelkopf und erigiertem Penis. Die Tierbilder beeindrucken vor allem durch ihre ästhetische Qualität, jedoch fehlt auf den Motiven eine natürliche Umgebung. Auffällig ist, dass die Künstler Felsreliefs nutzten, um eine dreidimensionale Wirkung zu erzielen.
Insgesamt befinden sich in der Höhle fast 1600 Felsmalereien und -gravuren, in den Grundfarben Gelb, Braun, Rot bis Violett. Schwarze Konturen entstanden durch die Verwendung von Manganoxiden, die helleren Farbtöne gehen auf verschiedene, aus der Umgebung stammende Eisenoxide zurück. Die Farben wurden direkt mit Händen oder Moosbüscheln im Schein von Fettlampen aufgetragen.
Die Höhlenverzierungen repräsentieren einen eigenwilligen Stil und verströmen eine unverwechselbare Atmosphäre. Sie entstanden in unterschiedlichen Epochen, aus einem Zeitraum von mehreren tausend Jahren.
Über die Bedeutung der Höhlenbilder herrscht bis heute Uneinigkeit. Zeigen die Wandmalereien Jagdszenen? Oder sind die Bilder Ausdruck eines Schamismus? Zeugnisse einer ursprünglichen Form der Religion? Ethnologen wollen in Lascaux gar eine Darstellung des vorgeschichtlichen Kosmos erkennen, ihrer Meinung nach symbolisierten die schwarzen Punkte in den Kunstwerken die Plejaden. Vermutlich war die Höhle eine Kultstätte und wurde nur zu besonderen Anlässen aufgesucht. Die Maler von Lascaux wählten den Ort mit Bedacht. Exakt am längsten Tag des Jahres, zur Sommersonnenwende, erhellen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne die Darstellungen bis weit in die Höhle hinein.
Warum gaben die Steinzeitkünstler vor rund 9000 v. Chr. die Höhle auf? Offenbar fiel ihr Ende mit der "neolithischen Revolution" zusammen. Die Menschen zogen nicht mehr länger als Nomaden durch die Gegend, sondern wurden sesshaft. Statt Tiere zu malen, wurden sie nun domestiziert.
Nicht nur die Entdeckung der Lascaux-Höhle ist einem Zufall zu verdanken, auch ihr guter Zustand basiert auf einigen glücklichen Fügungen: Das Vordach des Eingangs der zunächst nach außen hin offenen Höhle stürzte ein, nachrutschende Lehmmassen dichteten den Zugang mit Geröll ab. Das Gestein der Höhlendecke ist für Wasser undurchlässig und verhindert daher Sinterbildungen. Unter diesen Voraussetzungen blieben die durch eine dünne, durchsichtige Kalkschicht fixierten Malereien vollständig erhalten. Bei späteren Grabungen in der Höhle wurden außerdem über 400 Artefakte entdeckt: Verzierte Speerspitzen aus Rentiergeweih, Muschelumhänge, Bohrer, Lampen sowie Farb- und Nahrungsreste.
Durch die Wirren des Zweiten Weltkriegs gelangten Besucher erst danach – ab dem 13. Juli 1948 – in die Höhle. Der Boden wurde ausgeschachtet und abgesenkt, elektrische Beleuchtung sowie eine Treppe installiert und am Eingang eine Bronzetür eingebaut, um das Innere auf konstantem Klima von 14 Grad Celsius zu halten. Doch die Öffnung für Besucher war eine verheerende Entscheidung. Täglich über 1000 Neugierige setzten den Kunstwerken zu, durch ihre Atemluft und den hereingetragenen Staub. Moos- und Algenwucherungen führten in kürzester Zeit zu grünlichen Ablagerungen, weißlicher Kalzit beschädigte die kostbaren Wände.
Anfang der 60er Jahre waren die Bilder akut von Zerstörung bedroht. 1963 wurde deshalb die Höhle gesperrt. Schätzungsweise eine Million Menschen hatten sich bis dahin durch die schmalen Gänge gedrängelt. Die Bilder wurden restauriert und werden seitdem rund um die Uhr überwacht. Dennoch sind die Gemälde – die seit 1979 zum Unesco-Weltkulturerbe gehören – bis heute von Pilzbefall und schwarzem Schimmel bedroht.
Seit 1983 können Besucher die Kunstwerke trotzdem bestaunen: in einer originalgetreuen Nachbildung der Höhle – Lascaux II, in einem nur 200 Meter von den Originalen entfernten Steinbruch. Zunächst wurden lediglich zwei Räume nachgebaut. 2016 schließlich wurde das "Centre International d’Art Pariétal" eröffnet – ein imposantes Museum, in dem heute ein millimetergenaue Rekonstruktion der Grotte sowie sechs Ausstellungsräume untergebracht sind. Mit fast 300.000 Besuchern jährlich ist dies die meistbesuchte Sehenswürdigkeit der Region.
Die Entdecker der Höhle sind in den letzten Jahrzehnten gestorben – zuletzt Simon am 2. Februar diesen Jahres. Ein Buch wurde aus der Geschichte am Ende übrigens doch noch: Martin Walker hat mit "Schatten an der Wand" einen spannenden Historien-Krimi über die Entdeckung der Höhlen von Lascaux geschrieben.