Von Antje Merke
Alles schläft noch, wenn Guido Lorenzi frühmorgens in die dunkle Stube seiner Hütte tritt. Er ist leise. Dabei würde der Wind, der um seinen schneebedeckten Gipfelsitz fegt, seine Schritte auf den knarzenden Dielen ohnehin übertönen. Die Berge liegen noch im Dunkeln. Auch Wirt Guido lässt das Licht noch aus. Er liebt den Moment zwischen nächtlicher Ruhe und dem Erwachen des Tages, wenn die aufgehende Sonne das Blau des Nachthimmels aufhellt. "Das sind wunderschöne Augenblicke", sagt der 55-jährige Hüttenwirt, der seit 15 Jahren einen Großteil seines Lebens auf 2255 Metern Höhe verbringt.
Der Besitzer des Refugio Scoiattoli – die Hütte mit dem Namen "Eichhörnchen" wird schon seit 100 Jahren von der Familie geführt – lebt in einer Welt für sich. Hier oben prahlt die Natur mit der steinernen Pracht der Dolomiten. Gleich vor der Haustür etwa ragen die rauen Cinque Torri (Fünf Türme) in den Himmel. 1956 fanden in dem bis dahin eher verschlafenen Cortina d’Ampezzo die Olympischen Winterspiele statt – ein kleines Sportfest, verglichen mit den Großveranstaltungen von heute, die in dem Ort während der Weltcup-Saison ausgetragen werden. Aber groß genug, um die Aufmerksamkeit der Wintersportler damals auf sich zu lenken. Cortina wurde bald zum Nobelskiort und es gehörte vor allem unter den reichen Italienern in Rom, Florenz, Bologna oder Venedig zum guten Ton, dort einen Zweitwohnsitz zu haben. 5000 Einwohner hat das Dorf mittlerweile und 20.000 Betten, wobei die meisten nach wie vor in Privatbesitz sind. Wer seit Generationen in Cortina lebt, darf sich Ampezzano/a nennen, alle anderen sind und bleiben Reingeschmeckte. Den Unterschied merkt man sofort: Die Einheimischen unterhalten sich nämlich auf Ladinisch, während die anderen "nur" Italienisch sprechen.
Wahrscheinlich ist Cortina d’Ampezzo bis heute der italienischste Skiort in den Dolomiten. Wohl kaum irgendwo sonst wird die italienische Lebensart so selbstverständlich gelebt. Im Zentrum in der Fußgängerzone gibt es jede Menge schicke Boutiquen mit den neuesten Trends aus Mailand oder Paris. Und auf den Hütten wird der Genuss groß geschrieben. Im Rifugio Capanno im Gebiet Faloria zum Beispiel haben die Gäste die Wahl zwischen rund 100 Grappas. Davor wird Erlesenes serviert, wie fluffige Steinpilztörtchen, in Butter geschwenkte Casunzei (Schlutzkrapfen) mit Roter Beete und Parmesan oder Geschmortes vom Hirsch mit Polenta.
Da hat man hinterher wieder Power zum Carven. Mit 120 Pistenkilometern ist das Ampezzo-Gebiet ein Traum für Skifahrer und Snowboarder. Dank der Lage auf der Südseite der Alpen scheint hier zumindest statistisch an acht von zehn Tagen die Sonne. Einziger Wermutstropfen: Die Bergbahnen und Liftanlagen sind etwas in die Jahre gekommen. Doch was soll’s, das hat ja auch Vorteile: Zum einen, dass sich auf den Pisten keine Massen tummeln wie an der benachbarten Sellaronda. Zum anderen kann man so im Urlaub besser entschleunigen. Allerdings sollen bis zu den Olympischen Winterspielen im Jahr 2026 noch einige Anlagen modernisiert werden. Ein Anfang ist mit der neuen Gondel in Tofana seit Ende Dezember 2019 schon gemacht.

Die Region umfasst insgesamt drei Skigebiete: Faloria-Cristallo, Tofana sowie Lagazuoi-Cinque Torri. Faloria-Cristallo, das mit der Seilbahn vom Dorfzentrum aus am schnellsten zu erreichen ist, besticht besonders mit seinen langen schwarzen Abfahrten für Könner. Tofana am oberen Ortsrand ist vor allem für Familien mit Kindern geeignet. Legendär ist dort die Abfahrt vom Col Druscié nach Cortina. Bereits James Bond brauste hier "in tödlicher Mission" ins Tal. Der längste Hang ist die elf Kilometer lange Piste von Tofane nach Cortina d’Ampezzo. Besonders anspruchsvoll ist dagegen die Olympia delle Tofane mit ihren bis zu 68 Prozent Gefälle und dem markanten Felsen, an dem Top-Athleten bei den Weltcup-Rennen mit 120 Stundenkilometern gen Tal vorbeischießen. Im kleinsten Skigebiet, Cinque Torri, das nur per Bus oder Auto erreichbar ist, sind alle Pisten blau oder rot markiert. Die Hänge dort bieten sich fürs Genuss-Carven an. Keinesfalls versäumen sollten Wintersportler hier die sogenannte Super-8-Runde – allein schon wegen der sensationellen Bergsicht.
Oben auf dem Gipfel senkt sich derweil die nächtliche Ruhe über das Rifugio Scoiattoli. Von sternenklarem Himmel kann heute leider keine Rede sein. Stattdessen fällt Schnee in dicken Flocken.