Von Win Schumacher
Alonissos. Poseidon schickt seine Boten voraus. Gerade ist die grüne Silhouette der griechischen Insel Alonissos in Fahrtrichtung am Horizont aufgetaucht, als eine Gruppe Delfine wie ein Empfangskomitee aus dem Meer schnellt. Übermütig pflügen die lebensfrohen Tiere durch die Wellen und jagen spielerisch hintereinander her. Sie künden den größten Nationalpark des Mittelmeers an. An Bord der Fähre drängen die Reisenden an die Reling. Kinder jauchzen, Eltern rufen, Teenager kreischen und zücken ihre Smartphones.
Alle lieben Delfine. Doch ihr Anblick ist in der Ägäis heute selten geworden. Die Bestände sind in den letzten 40 Jahren fast überall zurückgegangen. Im Alonissos-Meeresnationalpark kommen jedoch noch immer vier Arten vor. 1992 wurde der Archipel um die Hauptinsel Alonnisos unter Schutz gestellt. Hier, wo sich die Nördlichen Sporaden in einer Gruppe verstreuter Felseninselchen verlieren, fanden viele Meeresbewohner eine Zuflucht, die anderswo längst verschwunden sind.
Noch seltener als die Delfine sind die verspielten Mönchsrobben in der Ägäis: So einer wie Billy müsste man sein! Den ganzen Tag hundefaul am Strand liegen und sich die griechische Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Billy ist eine von nur etwa 60 Mönchsrobben im Alonissos-Meeresnationalpark in der nordwestlichen Ägäis. Wahrscheinlich wurde er als Findelkind in einer Aufzuchtstation großgezogen, bevor man ihn hier auf den Nördlichen Sporaden in die Freiheit entließ. Vor Menschen zeigt er daher nur wenig Scheu. Seine wilden Verwandten im größten marinen Nationalpark des Mittelmeers sind da sehr viel misstrauischer. Weil sie jahrhundertelang erbarmungslos gejagt wurden, gehören die seehundähnlichen Robben heute zu den seltensten Säugetieren Europas.
"Um Mönchsrobben zu beobachten, muss man schon eine ganze Menge Glück mitbringen", sagt Tony Larcombe als er mit seinem Tauchboot den Hafen von Steni Vala auf der anderen Seite der Insel verlässt. Der 47-jährige Engländer leitet das einzige Tauchzentrum des Ortes. Vor dem Fischerdörfchen auf einer kleinen Landzunge dümpeln ein Dutzend Jachten im tiefblauen Wasser. Skipper auf Segeltour durch die Ägäis legen gerne in einer der Tavernen mit Blick auf die Bucht einen Zwischenstopp ein.
"Als ich das erste Mal meinen Fuß auf die Insel setzte, war ich vollkommen überwältigt", erzählt Tony. Als der sonnengegerbte Londoner vor zehn Jahren eher zufällig auf den Nördlichen Sporaden strandete, entschied er spontan, seine Karriere in der IT-Branche an den Nagel zu hängen und Alonissos zu seiner neuen Heimat zu machen. "Ich hatte sieben Jahre lang keinen Urlaub mehr gehabt und wusste: so kann es nicht weitergehen. Hier bleibst du."
Idylle im Hafen von Steni Vala auf Alonnisos. Foto: SchumacherAlonissos hat sich den Zauber einer Insel für Aussteiger bewahrt. Während die meisten großen Inseln der Ägäis längst Ziele des Massentourismus sind, findet man hier auch in der Hochsaison noch immer menschenleere Pinienwälder und einsame Eselpfade zu versteckten Strandbuchten. Die Insel hat weniger als 3000 Einwohner. Shopping-Meilen und Bettenburgen für Touristen gibt es hier nicht. Wer nach Alonnisos kommt, sucht vor allem Ursprünglichkeit.
Schon bei der Anreise mit der Fähre entschleunigt sich das Leben, je weiter man in den Osten der Sporaden vordringt. Die Partymeuten, mit denen man im Ferienflieger auf Skiathos gelandet ist, lässt man gleich im Hafen der am dichtesten besiedelten Insel zurück. Beim Zwischenstopp auf Skopelos gehen auch die Mamma Mia-Jünger von Bord. Hier auf der zweitgrößten Insel des Archipels wurde ein Großteil des Kultfilms von 2008 gedreht.
Tonys Boot hält vor einer von weißem Kalkstein gerahmten Grotte an. "In solchen Meereshöhlen finden die Mönchsrobben Zuflucht", erklärt der Tauchlehrer. "Hier bringen sie auch ihre Jungen zur Welt." Vor Urzeiten tummelten sich die Tiere in riesigen Kolonien auf den Stränden vieler Mittelmeer-Inseln und an den Küsten Nordafrikas. Jäger und Fischer rotteten die Robben wohl bereits in der Antike fast überall aus, auch wenn die Alten Griechen die verspielten Meerestiere als Gefährten Poseidons verehrten. Schon zu Lebzeiten von Aristoteles, der die Art als erster detailreich beschrieb, waren große Gruppen wahrscheinlich schon kein alltäglicher Anblick mehr.
Am Horizont taucht nun weit hinter Kyra Panagia die Silhouette einer weiteren Insel auf. "Piperi", verkündet Tony, "die Insel der Robben." Er selbst kann sich dem zentralen Schutzgebiet mit seinem Tauchboot nur auf drei Meilen nähern. Als Kernzone des Nationalparks darf Piperi nur von Naturschützern und Wissenschaftlern betreten werden.
Sonnenbad: Etwa 60 Mönchsrobben gibt es im Nationalpark. Foto: Schumacher
Piperi ist das Herzstück des Nationalparks", sagt Eleni Tounta von der griechischen Robbenschutz-Organisation MOm, "hier können Robben ungestört leben und sich fortpflanzen." Acht Robbenbabys hat die Meeresbiologin in diesem Jahr gezählt, ein ordentlicher Zuwachs für die 55 nachgewiesenen Tiere der Kolonie. "Bedenkt man, dass es heute wahrscheinlich nur noch etwa 600 Tiere gibt, wird deutlich, wie wichtig ihr Schutz hier ist." Neben der Kolonie auf Piperi gibt es nur noch weit verstreute Restpopulationen auf den Kykladen, Zakynthos, Karpathos, den Ilhas Desertas bei Madeira und an den Küsten der Türkei und der Westsahara.
Nur langsam steigt ihre Zahl wieder im Mittelmeer. "Wir bemühen uns seit 30 Jahren um den Schutz", sagt Tounta, "dabei darf man nicht vergessen, dass die Rettung der Robben sehr viel schwieriger ist als die anderer Arten." Immerhin wird die Mittelmeer-Mönchsrobbe seit 2015 auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion nur noch als stark gefährdet, nicht aber mehr als vom Aussterben bedroht gelistet.
Statt auf Piperi hält Tony nun Kurs auf Peristera, die Nachbarinsel von Alonissos. "Genau unter uns liegt gerade eines der größten hier jemals entdeckten Wracks." Weil Alonnisos bereits in der Antike an einer wichtigen Seeroute lag, sind in der Gegend mehrere Schiffe gesunken. Keines versetzte Unterwasserarchäologen so ins Staunen wie das eines Handelsschiffs, das vor Peristera sank. Über 4000 Amphoren soll der gesunkene Frachter aus byzantinischer Zeit gelagert haben. Ein eingestürztes Camp am Ufer erinnert an eine Gruppe Unterwasserarchäologen, die von hier aus vor Jahren den sensationellen Fund erforschten.
Dass sich ein Ausflug in die Meerstraße zwischen Peristera und Alonnisos jedoch nicht nur für Wracktaucher lohnt, zeigt schon ein erster Blick durch die Taucherbrille. Durch Schwärme von schillernden Goldstriemenbrassen und aschgrauen Mönchsfischen schweben Tony und seine kleine Tauchergruppe hinab ins Aquamarin. Aufgrund der Klarheit des Wassers und enormen Sichtweiten lockt Alonnisos in den letzten Jahren immer mehr Taucher an. Die bunten Meerpfauen genannten Lippfische und neonfarben leuchtende Edelkorallen, Schwämme und Fadenschnecken verleihen der Unterwasserwelt fast die Strahlkraft eines tropischen Riffs. Mit etwas Glück trifft man bei einem Tauchausflug auch auf Delfine. Neben dem Gemeinen Delfin und dem Großen Tümmler kommen im Meerespark auch der Streifen- und Rundkopfdelfin vor.
Nicht alles ist jedoch so unberührt wie es auf einem ersten Tauchgang aussieht. Tony hebt eine Plastikflasche vom Grund auf. "Wir haben auch schon alte Toilettenschüsseln und Waschbecken herausgefischt", erzählt der Tauchlehrer, als er wieder ins Boot gestiegen ist. "Noch immer fehlt es hier bei vielen an Verständnis für den Umweltschutz."
Zwar hat Alonissos 2015 als erste griechische Insel überhaupt den Gebrauch von Plastiktüten verboten, doch der Meerespark kämpft mit weiteren Problemen. Die Fischerei ist auf Alonnisos in der Nacht selbst im Park kaum eingeschränkt und Naturschützer beklagen, dass vor allem Schleppnetze großen Schaden anrichten. Einzig zwei Nationalpark-Guards überwachen ein Schutzgebiet, das fast die Fläche Luxemburgs umfasst. Die Einstellung von EU-Geldern und die verschwindend geringen Mittel, die der griechische Staat für den Meeresschutz aufbringt, lassen nicht hoffen, dass der Überfischung Einhalt geboten wird.
"Man sieht heute weniger Fische als noch vor zehn Jahren", sagt Tony. "Würde man das Meer hier einfach einmal zehn Jahre sich selbst überlassen, dies hier könnte ein Paradies sein". Als sei sie neugierig auf das Gespräch der Taucher, steckt urplötzlich tatsächlich eine Mönchsrobbe ihren Kopf aus dem Meer und blickt die Eindringlinge in ihr Revier aus dunklen Kulleraugen an. So schnell, wie das misstrauische Tier aufgetaucht ist, ist es auch gleich wieder verschwunden.
Wer dem Maskottchen des Meeresparks einmal begegnet ist, so hofft Tony, der wird Alonissos nicht gleichgültig verlassen. Sein Anliegen lässt auch viele Touristen nicht mehr los: Das Mittelmeer muss Heimat der Mönchsrobben und Delfine bleiben.