Prozession, Waschungen und Tänzer in Trance
30.000 Menschen versammeln sich am 7. und 8. Juli in Hamm in Westfalen zur größten Hindu-Feierlichkeit außerhalb Indiens.

Von Jochen Müssig
Spieße, Haken und Nägel. In Mund, Wangen und Rücken. Durchgestochen. Kaum zu glauben! Wir sind in Hamm, Nordrhein-Westfalen! Die Trommler geben, was sie können, trommeln die Tänzer in Trance. Keiner von ihnen ist ansprechbar.
Auf dem jährlichen Tempelfest in Hamm, wo der größte Hindu-Tempel Kontinentaleuropas seine Heimat gefunden hat, fühlt man sich im fernen Indien und nicht in Hamm, im Industriegebiet Uentrop. Das Fest findet dieses Jahr zum 31. Mal statt. 1993 wurde der Sri-Kamadchi-Ampal-Tempel eingeweiht. Namensgeberin ist Sri Kamadchi Ampal, die Göttin der Barmherzigkeit.
Hintergrund
Das Tempelfest findet statt am 7. Juli mit Umzug und Tänzen sowie am 8. Juli mit Prozession zum Kanal mit Waschungen, 11-15.30 Uhr:
Das Tempelfest findet statt am 7. Juli mit Umzug und Tänzen sowie am 8. Juli mit Prozession zum Kanal mit Waschungen, 11-15.30 Uhr: www.hinduistische-gemeinde-deutschland.de
Die Musik ist ohrenbetäubend, das Getrommel noch lauter, die Menschen sind fröhlich, alle traditionell indisch-bunt gekleidet. Der Duft von Räucherstäbchen liegt in der Luft. Mit Girlanden geschmückt wird die Göttin auf dem Prozessionswagen und im Trommelwirbel vom Tempel zum Dattel-Hamm-Kanal gebracht. Er ist der Ganges-Ersatz für die rituellen Waschungen. Es sind zwar nur 500 Meter, aber bis die Göttin am Wasser ist, vergehen zwei Stunden.
Zum größten Hindu-Fest in Europa kommen bis zu 30.000 Menschen, zum Teil aus den USA und anderen Teilen der Welt, auch einige Hundert Nicht-Hindus, denn alle Religionen sind willkommen. "Wir unterscheiden nicht. Religion ist immer der Weg zu Gott", sagt Hindu-Priester Arumugam Paskaran, der sich als Mittler zwischen Menschen und Göttern versteht. "Wir sühnen bei diesem Fest für unsere Fehler und Sünden. Nur viel, viel lauter als in anderen Religionen üblich."
Dabei erscheint viel, viel lauter maßlos untertrieben! Vielleicht wirkt für viele westliche Betrachter der Hinduismus deshalb manchmal wie eine Mischung aus Religion, Kult und Fantasy. Denn der Hinduismus kennt eine beinahe unbegrenzte Anzahl an Gottheiten, universale Herrscher, die für alle Aspekte des Lebens zuständig sind: Fruchtbarkeit, Gesundheit, Reichtum, Macht, Tod. In Hamm werden nicht weniger als 200 Götter verehrt.
Hamm ist keine aufregende Stadt: Bergbau noch bis 2010, Stahl, Chemie. Aber in Hamm kann man ein authentisches Stück Indien erleben. Der Tempel hat eine Grundfläche von 27 mal 27 Metern, mit einem 17 Meter hohen Gopuram, dem Eingangsturm. Wie der nach Hamm kam? "Es war Gottes Wille", sagt Priester Arumugam Paskaran. Auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka führte ihn eine Odyssee über Moskau und Berlin Richtung Paris. "Während der Zugfahrt hatte ich plötzlich großen Hunger und ich stieg einfach aus", erzählt der Mann mit dem langen weißen Bart. "So kam ich nach Hamm. Und ich blieb."

Noch im selben Jahr, 1989, baute sich Paskaran einen Schrein in seine Wohnung. Drei Jahre später folgte ein kleiner Tempel, 2002 der große aus unserer Zeit. Architekt war der Deutsche Heinz-Rainer Eichhorst aus Hamm, der keinerlei Erfahrung im Bau von hinduistischen Tempeln hatte.
Doch während eines mehrwöchigen Aufenthaltes in Südindien ließ sich Eichhorst über die religiösen Vorschriften für Tempelbauten unterrichten. Der Kanchi-Kamadchi-Tempel im südindischen Kanchipuram wurde die Vorlage.
"Ich habe das drei Jahre lang gemacht: von 2009 bis 2012. Beide Wangen wurden durchstochen, auch Rückenpartien …", sagt Akilan Kaneshamoorthy, heute 36 Jahre alt. Der gebürtige Tamile lebt seit gut zehn Jahren in Basel und hat sich für seine Mutter kasteit: "Sie hatte einen schweren Unfall, musste operiert werden und der Arzt benötigte für die Operation eine führende göttliche Überkraft".
Jeder, der das macht, habe seine ganz persönlichen Gründe, weiß Akilan. "Beim Durchstechen der Haut fließt kein Blut, auch beim Herausziehen nicht. Die Bestecher haben große Erfahrung, wissen genau, wohin sie stechen und treffen keine Adern." Bestecher ist kein Beruf. Tradition und Erfahrung werden von Generation zu Generation weitergegeben.

Aber der Ritus fängt nicht mit dem Bestechen an, sondern schon zwei Wochen früher mit dem Fasten. "Auf keinen Fall gibt es Alkohol oder Sex in dieser Zeit", sagt Akilan. "Ich habe nur Milch getrunken und gebetet. Mit Milch kommt man über die Runden. Manche essen abends eine Kleinigkeit. Aber egal wie, nach 15 Tagen ist man ganz schön geschafft." Am Prozessionstag wird das Fasten beendet. "Da ist man schon wie in einem Tunnel. Was zählt, ist nur die Göttin."
Ein Zeremonienmeister stimmt die Gläubigen mental auf ihre Strapazen ein. Und im Moment des Bestechens "spürte ich etwas Schmerz, aber dann auch doch nicht. Da war ich wie in einem Dämmerzustand, halb wach, halb weg". Das Ganze dauert sechs, sieben Stunden, "mit Schmerzen – und doch war ich immer selig: Der Tanz, die Musik, die Trommeln machen Schmerzen, Hunger und Strapazen fast vergessen". Die Narben sind aber auch nach elf Jahren noch zu sehen.
"Manchmal wird einer ohnmächtig", sagt Akilan, "aber Sanitäter sind ja da und meist reicht viel Wasser, um die Gläubigen wieder ins Jetzt zu holen. Typisch deutsch: Man muss vorher unterschreiben, dass man die Gefahren kennt und die Verantwortung selbst trägt." Akilan schmunzelt … Er kam mit acht Jahren nach Wuppertal, bekam in Deutschland auch seinen EU-Pass und handelt jetzt in der Schweiz im Bereich Lebensmittelimport und -export. Zum Fest nach Hamm fährt er jedes Jahr.
Im Schneckentempo kommt die Prozession voran. Die Tänzer wirbeln um den Prozessionswagen. Die Menschen klatschen, singen. So geht das jedes Jahr, seit 1993, als in Hamm das erste Tempelfest stattfand. Vier Jahre später wurde Malikarchchuna, die Tochter des Priesters, geboren und war seitdem bei allen Festen dabei. "Ich bin damit aufgewachsen", sagt sie. "Als kleines Kind dachte ich noch schüchtern: Oh Gott, so viele Leute, ich hatte ein bisschen Angst, musste mich überall irgendwie durchschlängeln."
Aber das Gefühl für das Fest wurde Jahr für Jahr intensiver. "Die Göttin schenkt jedem Menschen ihren Segen. Das ist ein unglaublich schönes Gefühl. Und zum anderen ist da diese wunderbare Feststimmung: Menschen treffen sich. Manche sehen sich nur einmal im Jahr bei uns in Hamm. Es gibt Marktstände mit typischen Sachen aus Sri Lanka und Indien".
Dann ist es so weit: Der Priester steht hüfttief im Kanalwasser und wäscht die Göttin rituell und symbolisch mit ein paar Tropfen. Auch Früchte, Milch, Joghurt betröpfelt er mit dem Kanalwasser, wäscht somit symbolisch die Nahrungsmittel, die als Lebensgrundlage des Menschen verehrt werden. "Wir glauben, Ganga ist jetzt in Hamm", sagt der Priester.
Und die Wassertropfen des Datteln-Hamm-Kanals werden zu Tropfen der Glückseligkeit. "Wir glauben, dass Flüsse und Seen von Gott kommen. Die Seele ist wichtig, nicht die Sauberkeit des Wassers", die am Ganges ganz sicher schlechter ist als an diesem Kanal unter der Autobahnbrücke der viel befahrenen A2.
Exotik so nah. Unter einer Autobahnbrücke. Und doch glaubt man, weit weg am Ganges zu sein.