300 Jahre Schuhgeschichte

Das Erbe der Schlabbeflicker

Vor der Kulisse des Pfälzerwaldes bewahren Pirmasens und Hauenstein ein anziehendes Kulturgut und gewähren Einblicke in ihre fast 300 Jahre alte Schuhgeschichte.

28.06.2025 UPDATE: 30.06.2025 04:00 Uhr 4 Minuten, 37 Sekunden
Wegweiser: Pumps in Megagröße vor dem Deutschen Schuhmuseum Hauenstein. Alle Fotos: Mattern

Von Sabine Mattern

Die wenigen Häuser von Hermersbergerhof sind eben erst passiert, wenn die schmale Straße über das Hochplateau einen theaterreifen Aussichtspunkt erreicht. Einem Logenplatz gleich schwebt dieser über der Landschaft, vor sich ein wogendes Meer aus Grüntönen, ein endlos scheinendes Dach aus Blattwerk und Nadeln – und dennoch nur ein Ausschnitt aus dem größten zusammenhängenden Waldgebiet unserer Republik. Wie auch anderswo im Pfälzerwald locken die Schönheiten der Natur Wanderer in die Gegend rund um den kleinen Weiler. Leise Schritte über schattige Pfade lenkend und die himmlische Ruhe genießend, während sich das Interesse der Touristen nur zehn Autominuten weiter südlich, in Hauenstein nämlich, weit profaneren Dingen zuwendet: Schuhen, Schuhen und nochmals Schuhen.

Mit Stolz trägt der lauschige Ort in der Südwestpfalz seinen Titel als "größtes Schuhdorf Deutschlands". Eine Auszeichnung, deren Ursprünge gut 20 Kilometer Richtung Westen liegen. In Pirmasens, wo alles begann. Wo im Jahr 1741 der künftige Regent des Hauses Hessen-Darmstadt den Grundstein legte für ein bedeutendes Zentrum deutscher Schuhherstellung, dessen beinah 300-jährige Geschichte von Erfolgen wie Niederlagen gezeichnet sein sollte.

Museumsschatz aus der Promiwelt: Kylie Minogues zarte Edeltreter.

Ludwig IX., ausgestattet mit einem Faible fürs Komponieren von Militärmärschen, wählte Pirmasens, damals ein abgeschiedenes winziges Dorf, als Residenz und Standort einer Garnison. Anfangs besserten die Grenadiersfrauen vielfach den mageren Sold des Gatten durch die Herstellung einfacher Stoffschuhe, den Schlabbe, auf. Eine Aufgabe, die zunehmend die Männer nach dem Tod von Landgraf Ludwig 1790 übernahmen, als die Garnison verlegt wurde und viele Soldaten arbeitslos zurückließ.

"Ihre Frauen sorgten für den Vertrieb", erzählt Stadtführerin Ute Jaquet-Wagner. "Sie waren Tage und Wochen unterwegs, oft bis ins Ausland, und verkauften ihre Waren auf Märkten." Zu sehen sind zwei solcher sogenannten Schuhmädchen vor der Alten Post, einem herrschaftlichen Sandsteinbau der Gründerzeit im Stil der Neorenaissance – als Skulpturen in Bronze gegossen, eine Kiepe mit Schuhen auf dem Rücken die eine, einen Korb auf dem Kopf die andere.

Natürlich nahm die Zeit ihren Lauf und nichts blieb, wie es war. Aus leichten Wollschlappen wurden robustere Lederschuhe, aus Heim- und Manufakturarbeitern mit Fortschreiten der Industrialisierung Fabrikarbeiter. 1838 öffnete in Pirmasens Peter Kaiser seine Tore: Deutschlands erste Schuhfabrik! Zahlreiche weitere Firmengründungen folgten, hier und im Umland, mehr und mehr Zulieferer kamen hinzu. Maßanfertigungen der Schuhmacher wurden immer weniger nachgefragt. Maschinen ersetzten jetzt Handarbeit. Und Pirmasens wuchs weiter. Gegen 1870 gab es hier 54 Schuhfabriken. Mehr als dreieinhalb Millionen Paar Schuhe wurden im Jahr gefertigt.

Doch der Boom hielt nicht an. Besonders der Zweite Weltkrieg, nach dem der größte Teil der Pirmasenser Innenstadt in Schutt und Asche lag, bremste den wirtschaftlichen Erfolgskurs. Und es brauchte viel unternehmerisches Engagement, der örtlichen Schuhindustrie in den 1960er-Jahren zu einer neuen großen Blüte zu verhelfen, bevor ein Jahrzehnt später die zunehmende Konkurrenz aus Billiglohnländern das Schicksal der "Deutschen Schuhmetropole" endgültig besiegelte. Nur einige wenige Schuhfabriken haben überlebt. Andere wanderten ab ins Ausland, wo die Herstellung kostengünstiger war, oder schlossen ganz. Zurück blieben ihre eindrucksvollen Produktionsstätten, die teils eine neue Nutzung erfuhren. So wie Rheinberger, einst größte Schuhfabrik Europas, in deren Mauern inzwischen unter anderem ein Wissenschaftsmuseum eingezogen ist.

Wahrscheinlich ist die Umnutzung einer verlassenen Fabrikarchitektur aber nirgendwo besser gelungen als in Hauenstein, wo in der Turnstraße seit 1996 das Deutsche Schuhmuseum residiert – untergebracht im einstigen Betrieb der Familie Schwarzmüller, der Anfang der 1970er-Jahre die Segel strich. So wie die Ausstellung ist auch das Gebäude selbst etwas Besonderes: einem Schuhkarton nicht unähnlich, 1929 im Stil des Neuen Bauens als schlichter weißer Kubus entstanden.

Schon vor Eintritt in die ehemalige Fabrikanlage darf zum ersten Mal gestaunt werden, steht doch im Entrée nichts Geringeres als "Der größte Schuh der Welt": ein derber Wanderschuh der Marke Lowa, 1500 Kilo schwer, mit Schnürsenkeln dick wie Schiffstaue, passend für die Schuhgröße 1071 und Vorgeschmack auf die modern konzipierte Ausstellung, die sich auf drei Fabriketagen verteilt.

„Schlabbe“ aus dem Hause Seibel – wohlig, warm und Made in Germany. 

Der Besucher bewegt sich hier auf spannenden Rundgängen zwischen Mittelalter und Jetzt-Zeit, erlebt die Entwicklung der pfälzischen Schuhgeschichte über die Jahrzehnte, sammelt Wissen über Material, Herstellung, Handel, Reklame. Schaut in eine ärmlich anmutende Küche von Heimarbeitern, in eine mit allen Werkzeugen ausgestattete historische Schuhmacherwerkstatt oder einen altmodischen Laden, in dessen Regalen sich verblichene Schuhkartons stapeln.

Zahlreiche Maschinen finden sich auf der Liste sehenswerter Exponate und natürlich das, worum es geht: Schuhe in Hülle und Fülle. Schuhe aus aller Herren Länder und aus unterschiedlichsten Zeiten, die den Wandel der Mode dokumentieren. Schuhe aus Leder, Fell, Seide, Filz, Gummi, Baumwolle, Holz, Kunststoff oder Stroh. Mal sexy, mal altbacken. Geflügelte Einhorn-Pantoffel aus Schweden, bestickte Abendschuhe von Bally oder Irokesenmokassins aus Nordamerika sind dabei. Und als Höhepunkt jede Menge ausrangierte Promi-Schuhe: schwarze Lackstiefeletten von Thomas Gottschalk, Götz Georges Cowboystiefel, hochhackige Sandalen in knalligem Rot von Kylie Minogue oder die Fußballschuhe, die Miroslav Klose bei seinen Spielen der WM 2002 trug.

Besonderen Schuhfirmen widmet das Museum eigens ein Porträt, darunter auch Hauensteins ältester: der Josef-Seibel-Schuhfabrik, deren Gründung auf das Jahr 1886 zurückgeht, als die Brüder Carl-August und Anton Seibel in einer Scheune neben dem Elternhaus eine Stanzmaschine installierten und mit der Produktion begannen. Heute, vier Generationen später, ist Seibel die letzte von einst 36 Fabriken, die noch in dem kleinen Luftkurort Schuhe macht.

Aber auch das Familienunternehmen der Seibels blieb nicht verschont vom Abstieg der Pfälzer Schuhindustrie und verlagerte seine Produktion zu großen Teilen ins Ausland. Doch Hauenstein blieb Hauptsitz. Und so gehen hier in der Waldenburgerstraße wochentags noch 30 Mitarbeiter ans Werk, und das live unter den Blicken von Besuchern. Warm ist es in der Halle, durchdrungen von unterschiedlichen Geräuschen und Gerüchen. Leder hängt in zig Farben auf Ständern. Es wird zugeschnitten und gesteppt, montiert und von Hand genäht. Eine Laufstraße bringt die Gäste durch die Produktion, vorbei an jedem Arbeitsplatz. Und zum Schluss kann in einem kleinen Store auch der persönliche Favorit erworben werden, handwerklich perfekt und "Made in Germany".

Wem die Auswahl hier nicht genügt, geht einfach ein paar Meter die Straße hinunter, wo Seibel ein Factory Outlet betreibt – einer von zahlreichen Läden, die sich zur "Schuhmeile Hauenstein", einem Dorado für Schuhliebhaber, zusammengefunden haben. Rund eine Million Schuhe bekannter Marken wie Gabor, Tamaris, Puma oder Birkenstock suchen in dieser verführerischen Einkaufsstraße das passende Paar Füße. Hier gibt es Trendiges, mal lässig, mal elegant verschnürt. Für die Dame, für den Herrn, für das Kind. Und vielleicht fällt die Wahl da ja auf ein Paar Wanderschuhe. Denn was spräche dagegen, diese direkt vor Ort einem Praxistest zu unterziehen. Etwa auf dem Hauensteiner Schusterpfad, der – begleitet vom Rot der Sandsteinfelsen und dem Grün der Buchen, Eichen, Kiefern – auf rund 15 Kilometern die Reize des Wasgaus offenbart.


INFORMATIONEN

Anreise: Mit dem Auto von Heidelberg nach Pirmasens: z.B. über Landau in rund 97 Kilometer. Nach Hauenstein fährt man von dort gut 20 Minuten.

Unterkunft: Hotel Kunz in Pirmasens: komfortables Familienhotel mit erlesener Gastronomie und 300 Quadratmeter großer Wellnesswelt, DZ/F ab 135 Euro: www.hotel-kunz.de.

Waldhotel Felsentor in Hauenstein: gemütliche Adresse mit 27 Zimmern, großem Garten und guter Küche, DZ/F ab 105 Euro: www.waldhotel-felsentor.de 

Schuhe: Infos, Eintrittspreise, Öffnungszeiten: Josef Seibel Schuhfabrik (Besucher- und Erlebniszentrum): www.josef-seibel.de 

Deutsches Schuhmuseum: www.museum-hauenstein.de 

Schuhmeile Hauenstein: www.schuhmeile.com 

Stadtführung mal anders: "Schlabbetour" – unterwegs auf den Spuren der Pirmasenser Schuhindustrie:

www.pirmasens.de/tourismus 

Weitere Infos: www.pfalz.de und www.urlaubsregion-hauenstein.de