Von Sören S. Sgries
Stuttgart/Heidelberg. Als Winfried Kretschmann (72) vor einer Woche die Brustkrebserkrankung seiner Ehefrau Gerlinde öffentlich machte, kamen die Genesungswünsche aus allen politischen Lagern. "Ich hoffe, dass sich das bei meiner Frau gut entwickelt", sagt der Ministerpräsident zu Beginn des RNZ-Interviews, für das er sich fast eine Stunde Zeit nimmt – auch wenn im Wahlkampf ansonsten "das eine oder andere zurückstehen" muss.
Herr Kretschmann, seit fast einem Jahr sind Sie durch Corona nahezu dauerhaft im Krisenmodus. Hat man da in der politischen Arbeit noch Energie für andere Themen?
Ja. Wir haben ja ein Programm "Stärker aus der Krise" aufgelegt mit 1,2 Milliarden Euro. Da geht es um innovative Anstöße vor allem auch für unsere Mittelständler. Wir gucken, dass Baden-Württemberg nach der Krise wettbewerbsfähig gut dasteht. Auch der Klimawandel steht als größte Herausforderung der nächsten zehn Jahre ganz oben auf der Liste– weil man den Klimawandel nicht wegimpfen kann. All diese Themen hätten es verdient, dass man sich voll auf sie konzentriert. Aber jetzt fordert die Pandemie unsere volle Aufmerksamkeit.
Ein Kreuz, zwei Stimmen - Folge 7: Öffnungspläne und kraftstrotzende Grüne – mit Winfried Kretschmann
Moderation: Sören Sgries und Alexander Rechner / Schnitt und Produktion: Reinhard Lask
Den letzten Wahlkampf begleitete die Flüchtlingskrise. Was ist schwieriger zu managen?
Die Pandemie ist schwieriger. Sie greift unmittelbar in den Alltag praktisch jedes Menschen ein. Das war bei der Flüchtlingskrise nicht so. Und die Pandemie geht jetzt schon ein Jahr. Die Menschen sind allmählich müde.
Merken Sie das an sich selber? Bei Ihrem Auftritt bei Markus Lanz zum Thema Schulöffnungen wirkten Sie eher dünnhäutig.
Nein. Beim Lanz müssen Sie berücksichtigen: Es war eine Zuschaltung. Ich sah nur in die Kamera, ich sah die Leute und das Studio nicht, ich hatte noch nicht einmal einen Monitor. Da fehlt dir die Rückmeldung. Dass ich da etwas taff aufgetreten bin, das habe erst hinterher beim Anschauen gemerkt.
Gleichzeitig meinte man zu spüren, dass Sie auch das Gefühl hatten, Baden-Württemberg wird unfair behandelt – weil es um Öffnungsschritte ging, die andere Bundesländer längst gegangen waren.
Genau. Das hat mich etwas geärgert. Immer wurde von einem "Sonderweg" gesprochen, dabei haben wir uns an die Beschlüsse gehalten. Über andere Länder, die das schon die ganze Zeit so machten, hat kein Mensch geredet.
Als Regierungschef sind Sie ja vermutlich recht abgeschottet von den alltäglichen Herausforderungen. Wo merken Sie, welche Einschnitte der Lockdown bedeutet?
Ich bin nicht abgeschottet. Wir werden geflutet von Briefen und Mails – das geht selbst in meine Privatpost. Die Leute stehen bei mir zuhause auf der Treppe. Bei vielen Geschäftsleuten und Selbstständigen geht es um die Existenz – da verstehe ich, dass es auch mal böse Briefe gibt. Aber nicht wir sind die Bösewichte, sondern das Virus. Die Durchhalteappelle, die nützen sich ab. Das geht mir auch so. Aber wir müssen es machen. Das ist unsere Verantwortung als Gesellschaft. Es geht um Leben und Tod.
Vor allem die Mutante bereitet Sorgen.
Ein wichtiger Teil der vulnerablen Gruppen – die über-80-Jährigen - sind bald geimpft. Aber wenn die Pandemie durch die neuen Mutanten aus dem Ruder läuft, dann ist auch die Gefahr groß, dass sehr viel mehr Junge auf den Intensivstationen landen. Man muss nicht glauben, es beträfe nur die Alten. Es trifft uns alle. Aber wir sind auf einem guten Weg. Wir beginnen mit den Öffnungen am Montag bei den Grundschulen und Kitas. Und wenn wir stabil unter einer Inzidenz von 35 sind, werden auch Geschäfte geöffnet. Es zeigt, dass wir im Kampf gegen die Pandemie nicht machtlos sind und unsere Maßnahmen greifen.
Gibt es etwas, auf dass Sie sich besonders wieder freuen? Wenn Ihr Baumarkt wieder öffnet?
Ich komme im Moment wenig zum Heimwerken. Auch in absehbarer Zeit sicher nicht.
Und in der heiß diskutierten Urlaubsfrage? Stellen Sie sich auf einen weiteren Sommer im Bayerischen Wald ein, oder hoffen Sie auf Griechenland?
Zumindest Ostern müssen wir noch einmal anders verbringen. Wir dürfen jetzt nicht unvernünftig werden und das Erreichte verspielen, indem wir denken, jetzt ist es vorbei. Also gilt bis auf Weiteres: Möglichst auf Reisen verzichten!
Die Entscheidung im Sommer 2019, noch einmal als Spitzenkandidat anzutreten, haben Sie sich nicht leicht gemacht. Bereuen Sie inzwischen Ihre Entscheidung?
Man darf mit so einer Krise nicht hadern als Regierungschef. Katastrophen oder schwere Krisen gehören dazu. Gegen die muss man mit derselben Energie und Leidenschaft ankämpfen, mit der man sonst auch gestaltet. Gerade in einer Krise ist der Staat besonders gefragt.
Ihr zentrales Argument damals: Im Bereich Klimaschutz wollten Sie noch viel bewegen. Geht das noch in der Krise, bei einbrechenden Steuereinnahmen?
Das ist eine Frage des Willens, der Rahmenbedingungen. Die Wissenschaft sagt, wir haben zehn Jahre Zeit. Das ist die Dekade der Entscheidungen. Und dabei geht es nicht immer um Geld. Wir brauchen einen richtigen Hochlauf der regenerativen Energie. Heute dauert es sieben Jahre, bis ein neues Windrad steht. Das müssen wir entbürokratisieren und enorm beschleunigen. Wenn ich an die Photovoltaik denke: Die Dächer müssen schwarz werden. Das heißt: Wir wollen die Pflicht für Photovoltaik-Anlagen auf neue Wohngebäude ausdehnen.
Klimaschützer sagen: Die Grünen hätten in der vergangenen Dekade schon viel mehr erreichen müssen.
Der Wettlauf um die radikalsten Ziele im Klimaschutz führt zu nichts. Du brauchst die richtigen Instrumente, um die Ziele zu erreichen. Beispielsweise die CO2-Bepreisung: Da hatte ich die Gelegenheit mit dem Bund zu verhandeln, deshalb ist der Einstiegspreis von 10 auf 25 Euro gestiegen. Und er wird weiter steigen. Darum geht es. Wir sind uns bei den Zielen ja einig: Baden-Württemberg muss klimaneutral werden. Dafür braucht man aber Verbündete, Mehrheiten, dafür muss man gewählt werden.
Beim Thema Artenschutz scheint aber erst ein Volksbegehren Ihre Regierung zum Handeln bewegt zu haben. Wie wichtig ist solch ein Druck?
Dass die jungen Leute auf die Straße gehen, für mehr Klimaschutz Druck erzeugen, das ist nur hilfreich. Auch um das Volksbegehren Artenschutz war ich froh. Ich sage ja: Wir brauchen Verbündete. Zu dieser ganzen Frage der Ernährung, der Landwirtschaft, des Artenschutzes will ich einen neuen Gesellschaftsvertrag zwischen Verbrauchern, Bauern und dem Handel auf den Weg bringen. Wer glaubt, mit Dumpingpreisen kann die Biodiversität erhalten werden, irrt.
Sitzen Sie in Stuttgart da überhaupt am richtigen Hebel? Das Schnitzel, dass ich mir kaufe, kommt doch eher aus den großen Mastbetrieben in Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen?
Unsere Wirtschaft ist so stark durch ihren Mittelstand. Warum soll das in der Landwirtschaft anders sein? Auch da ist unsere bäuerliche, mittelständisch geprägte Landwirtschaft das Rückgrat. Wenn wir denken, wir könnten auch in Baden-Württemberg die Landwirtschaft industrialisieren: Das wäre sicher ein Irrweg. Dann wird es nichts mit sauberem Grundwasser, vielen Wildbienen und schmackhaften, regionalen Lebensmitteln auf dem Tisch, die man mit gutem Gewissen essen kann.
In Umfragen stehen die Grünen aktuell sehr gut da. Man muss vermuten, dass Sie sich vermutlich Koalitionspartner für diese Ziele aussuchen können.
Dem Eindruck muss ich heftig entgegentreten, dass wir irgendwie die Wahl jetzt schon gewonnen hätten. Wie die Pandemie sich auswirkt auf das Wahlverhalten, das weiß ich mal gar nicht. So wenig habe ich noch nie auf Umfragen gegeben wie derzeit. Wir wollen so stark werden, dass gegen uns keine Regierung gebildet werden kann. Ich werde mich aber nicht auf Experimente einlassen, von denen ich nicht sicher bin, dass sie das Land voranbringen. Wir brauchen eine stabile Regierung.
Wenn Sie so unsicher auf die Umfragen schauen, spielt da ja auch die Unzufriedenheit mit dem Krisenmanagement rein. Woher rührt das?
Ich glaube, es liegt vor allem an der Dauer der Pandemie. Das zermürbt die Leute.
Also keine Fehler, die Sie machen?
Natürlich werden Fehler gemacht, das ist gar nicht zu vermeiden. Die Wissenschaft muss Thesen revidieren, Erkenntnisse stellen sich als falsch heraus. Auch wir schlagen mal eine falsche Richtung ein, müssen Entscheidungen korrigieren, auch wenn nach bestem Wissen und Gewissen und so sorgfältig wie möglich abgewogen und entschieden wird. Nehmen wir den November: Ein Teil der Wissenschaft hat gesagt: Ein Teil-Lockdown kann genügen, um die Welle zu brechen. Das hat sich als falsch herausgestellt. Eine ähnliche Lage haben wir jetzt wieder: Die Zahlen entwickeln sich gut. Mit einer stabilen Inzidenz von unter 35 will ich ja Geschäfte öffnen. Aber gleichzeitig wissen wir, dass die Gefahr einer dritten Welle droht mit Blick auf die Mutanten. Das ist ein Balanceakt, da gibt es keine Gewissheiten. Wir müssen unter Bedingungen der Unsicherheit handeln.
Wiederholen Sie nicht auch Fehler? Bei den Impfungen wurden große Erwartungen geweckt, obwohl nicht genug Impfstoff zur Verfügung stand. Ähnlich könnte es bei den Schnelltests laufen: Selbst 4 Millionen aus der Landesreserve sind doch letztlich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein?
Das Problem kommt eher aus den Überschriften. Wenn man das genau anguckt, ist das schon moderat und vorsichtig formuliert. Immer nur zu rufen "Testen, testen, testen", wie es meine Mitbewerberin macht, das mache ich ja nicht. Das weckt Erwartungen, die wir nachher nicht erfüllen können. Sinnvoll ist es, bestimmte Gruppen auch ohne Symptome zu testen – also Lehrerinnen, Erzieherinnen, Kassiererinnen. Oder diejenigen, die ihre Oma besuchen wollen. Aber nicht ganz diffus die ganze Bevölkerung. Da hat auch jeder eine Eigenverantwortung.
Sie sind ein Regierungschef, der sehr treu an seinen Ministerinnen und Ministern festhält. Haben diejenigen, die dabei bleiben wollen, eine Jobgarantie?
Davon kann niemand ausgehen. Es gibt keinen Anspruch auf so ein Amt. Das weiß auch jeder. Wer mir daherkommt und denkt, er hat einen Anspruch darauf, der hat den Anspruch schon verloren.
Und Susanne Eisenmann? Wäre mit ihr – im Falle einer Fortsetzung der Koalition – eine weitere Zusammenarbeit im Kabinett möglich?
Wenn von den Ministern einer als Gegenkandidat auftritt im Wahlkampf, das muss man aushalten.
Und für Sie bleibt es dabei: Spätestens in fünf Jahren ist Schluss?
Ja, trotz Joe Biden. Ich bin in fünf Jahren ja so alt wie er, wenn er jetzt anfängt. Aber das mache ich mit 100-prozentiger Sicherheit nicht.
Helfen Sie dabei, einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin aufzubauen?
Ich habe mich in der Vergangenheit durchaus darum gekümmert, auch wenn mir das niemand glaubt. Allerdings werde ich das nicht mehr machen. Das war mir die Lehre von Kramp-Karrenbauer. Sie war die Favoritin der Kanzlerin – und sie ist gescheitert. Wir leben nicht in einer Monarchie. Ich bin nicht der Fürst, der seinen Nachfolger bestimmt. Was ich aber mache: Ich praktiziere einen Führungsstil als Ministerpräsident, der seinen Ministern Raum zur Entfaltung lässt, so dass jeder die Möglichkeit hat, sich zu entwickeln und zu zeigen, wozu er fähig ist.
Info: Dieses Interview ist die gekürzte und autorisierte Variante eines Gesprächs im Rahmen des RNZ-Podcasts "Ein Kreuz, zwei Stimmen". Das gesamte Gespräch hören Sie in der aktuellen Folge auf www.rnz.de/zweistimmen. Oder hier als "Interview pur":
Interview pur - mit Winfried Kretschmann
Moderation: Sören Sgries und Alexander Rechner / Schnitt und Produktion: Reinhard Lask